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Ausgabe:

1995

Spalte:

174-175

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Tanner, Klaus

Titel/Untertitel:

Der lange Schatten des Naturrechts 1995

Rezensent:

Winger, Wolfram

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 2

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des Artikels „Gemeinschaft" wird zwar eine reiche Darbietung
von Material vorgelegt; man vermißt jedoch eine scharfe und
griffige Zuspitzung der Fragestellung, etwa in der Hinsicht, ob
eine christliche Liebesethik überhaupt universalisierbar ist und
sich für ein „Weltcthos" überhaupt eignet, oder ob Gerechtigkeit
, Fairness nicht eine geeignetere universale Grundnorm
abgeben würde. Im Abschnitt „Liebesprinzip und Lebenswirklichkeit
" (l(X)-l()4) wird das Problem beim „Regelagapismus"
sichtbar. Der Abschnitt „Ehe und Beziehung" (105-110) ist
durch einen thcologicgeschichtliehen Überblick eingeleitet, der
die Entgegensetzung von „Eros" und „Agape" als historisch
bedingt aufklärt. Der Abschnitt „Neuzeitliche Theorien über
Ehe und Liebe" (110-134) greift wiederum auf den Artikel
..Ehe" (TRE VIII) zurück und ist entsprechend referierend im
Stil gehalten. Das Problem der Individualisierung und Subjekti-
vierung ehelicher und sexueller Beziehungen gibt den Leitfaden
ab; die Destabilisierung der Ehe durch einen „utilitaristischen
und expressiven Individualismus" (132) wird im Anschluß an
die soziologischen Interpretationen von N. Luhmann, U. Beck,
E. Beck-Gernsheim überzeugend und eindrücklich entfaltet
(120ff.). „Liebe" ist eben in der Moderne und Postmoderne
nicht nur ein heikles theologisches Thema und Problem, sondern
inzwischen auch zum zwischenmenschlichen Problemfall
geworden. Der Nachtrag „Die biblische Begründung der Monogamie
" (135-162) ist der unveränderte Abdruck eines Vortrags
auf der Tagung der Societa Ethica in Basel 1965; auch hier gibt
es also eine Problemkontinuität.

Der III. Teil „Verantwortung. Freiheit und Liebe in Zweifels-
fällen" wendet die „Ethik im Dialog", in einer veränderten Gesellschaft
und unter Bedingungen subjektivierter Lebensführung
auf konkrete Fälle an: Grundsätzlich diskutiert wird die Frage der
.Kompetenzen: Kirche im demokratischen Staat" (163-169) aus
Anlaß der staatlichen Asylpolitik und im Blick auf den „zivilen
Ungehorsam". R. plädiert zutreffend für Differenzierungen der
Kompetenzen und tritt für Machtkontrolle und Rechtsbewußtsein
ein. Kirche ist nicht Staatsersatz, sondern soll ein „Forum kritischer
Öffentlichkeit" anbieten, auf dem die Rechte Benachteiligter
zu Gehör gebracht werden können. Informativ und kenntnisreich
in der Darstellung des Sachstandes und abwägend im Urteil
sind die Erörterungen der beiden aktuellen Themen „Drogen:
Maximen politischer Entscheidung" (170-183) und „AIDS: Li-
bertinismus und sozialethische Pflichten" (184-196). R. bemüht
sich in beiden Fällen vorbildlich um eine Gratwanderung zwischen
Repression und Liberalisierung. Er spricht sich für Prävention
und Schadensminderung aus und wendet sich gegen abwiegelnde
oder beschönigende Aussagen, die dann radikale individuelle
Selbstentfaltung legitimieren sollen. Gegen „platten
Hedonismus" als Selbstsucht verweist er auf Verantwortungsethik
(189ff.), auf Hilfe zur Selbstverantwortung, im Sinne einer
Befähigung zu selbständiger Lebensführung (193). Die Komplexität
der Probleme wird deutlich: der Verzicht auf ethische Orientierung
löst die Schwierigkeiten nicht. Der letzte Satz lautet:
-platter Utilitarismus wäre aber sicher das Schlechteste" (196).

R. richtet in der Einleitung und in den Konkretionen den
Blick auf neue Perspektiven der Ethik, üb man dies Konturen
einer „postmodernen Moral" nennen kann, mag offenbleiben.
Die grundsätzlichen Ausführungen zu Freiheit und Gemeinschaft
und zur Liebe wirken, verglichen mit der Einleitung und
dem Ausblick, eher konventionell. Aber vielleicht ist dies gerade
Anzeichen der Postmodernc. daß große Worte, wie Freiheit
und Liebe, an Glanz und Anziehungskraft verlieren und das
Praktische Zurechtfinden in schwierigen Lebenslagen vordringlich
wird. R. hat für solche Situationsveränderungen Gespür
und sieht die Grenzen und Abgründe einer radikalen Individualisierung
und Liberalisierung. Die damit aufgegebenen Fragen
nach Wertewandel. Werteverantwortung und nach Regeln verantwortlicher
Lebensführung werden nicht ausdrücklich thematisiert
. Ob hier nicht doch Erfahrungen einer - berechtigten -
Moralkritik der „New Morality" nachwirken? R.s Beiträge geben
durch ihre sorgfältigen Analysen und besonnene Urteile
beachtliche Impulse zur Orientierung gegenwärtiger Ethik.

Bonn Martin Honecker

Tanner, Klaus: Der lange Schatten des Naturrechts. Eine
fundamentalethische Untersuchung. Stuttgart-Berlin-Köln:
Kohlhammer 1993. 248 S. gr.8«. Kart. DM 69,-. ISBN 3-17-
012693-8.

In der katholischen Theologie und in der Rechtsphilosophie hat
es jüngst mehrere bedeutende Versuche gegeben, die klassische
Argumentationsfigur Naturrecht aus der materialen Entführung
, wie sie im 19.Jh. zutage getreten war, herauszulösen, ihren
Begriffsinhalt vor der v.a. seit dem Historismus geänderten
Hermeneutik auszuweisen und damit ihre positive Funktion im
Begründungskontext sittlicher Entscheidungen zu rehabilitieren
.1 Im Umfeld derartiger Neuansätze ist nun natürlich die
Frage, was der Protestant Tanner über die Verwendung des Naturrechtsbegriffs
im Alt- und Neuprotestantismus eruieren
konnte, interessant, ist doch der Rekurs auf diesen Begriff v.a.
im Neuprotestantismus äußerst umstritten (38-53).

Die Arbeit gliedert sich wie folgt: Nach der Einleitung (9-12:
„Auf der Suche nach Gründen") birgt Kapitel I (13-58: „Protestantismus
und Naturrecht") den Versuch, den Stellenwert des
Naturrechtsarguments in der evangelischen Ethik zu orten (13-
16), beispielhaft methodische und materiale Fragestellungen protestantischer
Theologen aufzuzeigen, auf denen sich der „Schatten
des Naturrechts" (Buchtitel!) entdecken läßt (17-38), die besonderen
Probleme protestantischer Theologie im Begründungsbereich
allgemein wie mit dem Naturrecht im besonderen aufzuzeigen
(38-53) und schließlich „die Naturrechtstradition als her-
meneutisches Sensorium für Grundprobleme der Ethik" darzustellen
(53-58). Kapitel II (59-163: „Naturrecht - Schlüssel zur
.Komplexität des Ethischen' im Werk Ernst Troeltschs") befaßt
sich mit Troeltschs heftig umstrittenen, aber wirkungsgeschichtlich
einschlägigen und folgenreichen Thesen zum Naturrecht.
Wie kein anderer evangelischer Theologe bemaß dieser dem
Naturrecht einen hohen Rang zu, wie kaum ein anderer Theologe
vor ihm versuchte er eine Verhältnisbestimmung von Naturrecht
und Historismus. Seine Hauptthese (59): Erst über die stoische
Naturrechtslehre sei eine christliche Sozial- und Kulturethik
ermöglicht worden. Überaus kenntnisreich, stark im Deskriptiven
und mit hohem Problembewußtsein gibt T. zentrale Aussagen
Troeltsch in 6 Unterkapiteln wieder: 1. Die Wiederentdeckung
des .Kulturdogmas der Kirche' (59-69); 2. Naturrecht
und die Aufgabe der Theologie (69-80); 3. Naturrecht und Güterethik
(80-96); 4. Proprium und Kompromiß - Fundamente
christlicher Ethik zwischen Voluntarismus und Rationalismus
(97-119); 5. eine Typologie christlicher Naturrechtslehren (120-
144); und 6. Normativität und Geschichte - Geschichtsphiloso-
phische Transformation der Naturrechtstradition (145-163). Mit
diesem Kapitel schafft sich T. geschickt das heuristische Instrumentarium
für Teil III (165-227: „Die Suche nach der ..Vernunft'
des Ethischen in der Gegenwartsphilosophie"), der aus 5 Unterpunkten
besteht: I. Die Grenzen des Vernunftideals der Aufklärung
(165-170); 2. Vernunftkritik und Ethik (170-175); 3. die
Wiederkehr des Naturrechts. Die .Vernunft' des Ethischen zwischen
praktischer Klugheit und Prinzipienwissen (176-183):
4. die .Natur' der Sprache als Fundament einer neuen Ethik des
.immer schon' (184-218); sowie 5. 'Patterns ofmoral complexi-
ty' (219-227). Mit der ..Schlußbemerkung: Weder Beliebigkeit
noch Letztbegründung" (228-234) endet die wissensmäßig gut
fundierte Abhandlung.