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Ausgabe:

1995

Spalte:

171-174

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Titel/Untertitel:

Freiheit und Liebe 1995

Rezensent:

Honecker, Martin

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 2

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bezeichnet werden kann, kommt darin nochmals deutlich zum
Tragen. Bei beiden aber bleibt dementsprechend, gemessen an
der Brisanz der darin enthaltenen, wirtschaftsethischen Herausforderungen
, sowohl eine unternehmensethische als auch eine
globalwirtschaftliche Konkretion auffallend verkürzt. Der besonders
steinige, für das alltägliche Wirtschaften aber entscheidende
Boden der Betriebswirtschaft wird nur aus großer Ferne
sichtbar. Globale Probleme eines überall drohenden Weltwirtschaftschaos
werden dadurch überflogen, daß sich die Argumentation
an einer neuen Weltwirtschaftsordnung hochrankt, eine
Vorstellung der 60er Jahre, die schon anfang der 70er Jahre aus
sehr realistischen Gründen als aussichtslose Utopie entlarvt wurde
. Es paßt dazu, daß sich F. dieses Konzept als ein Modell vorstellt
, das seine Struktur relativ unverblümt dem Vorbild einer
sozialen Marktwirtschaft etwa nach dem Muster Deutschlands
verdanken soll. Darin enthaltene Einzelthesen müßten am Verhandlungstisch
der Ökonomie, sei es in Management-Etagen von
Unternehmen, sei es auf internationalen Plattformen, entweder
zu harten Diskussionen - oder zum raschen Verstummen führen.
In den Konkretionen stellt sich die entscheidende Frage nach der
Relevanz und Gestaltungskraft einer „Wirtschaftsethik unter
christlichem Vorzeichen" (136), die jedoch nicht nur eine bestehende
Wirtschaftsordnung ethisch aufzuhellen, sondern aus den
akuten Problemen heraus auch kreativ nach vorn neue Lösungsimpulse
einzubringen vermag.

Zu den unbestreitbaren Stärken des Werkes gehört, daß es -
wie Rieh aus evangelischen Traditionen - aus dem Fundus
katholischer Soziallehre heraus konsequent den Schritt von der
Sozial- zur Wirtschaftsethik wagt. Besonders der eindrückliche
dritte Teil zeigt, daß christliche Ethik aus ihren relativ eigenständigen
Traditionen Impulse ins wirtschaftsethische Gespräch
einzubringen vermag, auf die nur zu dessen Schaden verzichtet
werden könnte. Die Grundfragen des Wirtschaftens sind zu elementar
und lebenswichtig, als daß sie der Ökonomie allein
überlassen bleiben dürften. Ob Wirtschaftswissenschaften und
ihre Praktiker nach Ethik „rufen", kann aus vielerlei Gründen
noch immer bezweifelt werden. F. aber gelingt es im Blick auf
Volkswirtschaftslehre eindrücklich, Ökonomie zur ethischen
Verantwortung zu rufen.

Bethel/Bielefeld Alfred Jäger

Ringeling, Hermann: Freiheit und Liebe. Beiträge zur Fundamental
- und Lebensethik III. Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag
; Freiburg-Wien: Herder 1994. 213 S. 8° = Studien zur
theologischen Ethik, 58. Kart. DM 36,-. ISBN 3-7278-0927-
2 u. 3-451-23548-X.

Hermann Ringeling, Sozialethiker in Bern, legt unter dem Titel
„Freiheit und Liebe" den 3. Band seiner Beiträge zur Fundamental
- und Lebensethik vor. Der 1. Band „Leben im Anspruch
der Schöpfung" (1988) hatte als Schwerpunkt die theologische
Anthropologie und Schöpfungslehre und Fragen medizinischer
Ethik (z.B. künstliche Befruchtung und Fortpflanzung, pränatale
Diagnostik, Gentalonologie). Der 2. Band „Ethik im Dialog"
(1991) erörterte schon Themen der neuen Moral, veränderter
Moralbegriffe, ethischer Urteilsfindung und vor allem der
Sexualität. Der neue Band setzt diese Thematik fort. Im Vorwort
wird deutlich, daß R. seine Beiträge als Entwürfe für eine
„Ethik des gegenwärtigen Christentums" (7) versteht. Er sucht
seinen Standort zeitlich zwischen dem Umbruch in der Ethik,
der in den 60er Jahren mit dem Stichwort „Neue Moral" benannt
wurde und der heutigen .„postmodernen' Individualisierung
der Lebensführung und Pluralisierung der Lebensformeln,
damit auch einer .postromantischen' Moral" (7). Der Begriff
„postmodern" ist freilich unscharf und unbestimmt; denn was

heißt hier überhaupt „post"? Mit dem Wort Postmoderne kann
sehr Unterschiedliches, ja Gegensätzliches bezeichnet werden.
Im Grunde steht er nur als Chiffre für das Gefühl weitreichender
Veränderungen, deren Ausgang ungewiß ist und die lediglich
die Abkehr von der Moderne, von Aufklärung, von Vernunft
, Rationalität, von den großen Meta-Erzählungen, den Entwürfen
einer Gesamtdeutung der Welt, den Großideologien,
kurzum: den eindeutigen Positionen eint. Was freilich inhaltlich
das „Post" in Postmoderne besagen soll, ist beliebig. Man sollte
daher R.s emphatische Betonung einer „postmodernen" Moral
vor allem als Indiz eines Normen- und Wertewandels nehmen,
nicht als programmatische Leitformel eines neuen Entwurfs
verstehen.

Die Einleitung „Konturen einer ,postmodernen' Moral" (9-
21) enthält R.s Abschiedsvorlesung in Bern vom 30. Mai 1991.
In seinem persönlichen und bewegenden Rückblick gibt er sich
und seinen Hörern Rechenschaft über seinen Weg als Lehrer
der Sozialethik von den Anfängen in den 60er Jahren, in denen
er als „Tabuknacker" (10) das Thema „New Morality" reflektierte
, mit dem sich Protest gegen eine autoritäre, patriarchalische
, starre Moral artikulierte. Die „Neue Linke" benutzte dann
nach 1968 den moralischen Protest als Instrument einer Fundamentalpolitisierung
. Aus Moralkritik wurde politischer Protest.
Mit der Beseitigung des Kontrahenten „autoritäre" Moral bleibt
aber ein moralisches Vakuum am Ende übrig, das der moralische
Protest aufgerissen hat. Die ökologische Krise und die
zweite Weltwirtschaftskrise 1974/75 verschärfen diese Krisenerfahrung
. Seitdem hat sich nunmehr liberale Ethik von der
antibürgerlichen Moral, aber auch „von einer antimodernistischen
Kulturkritik im New-Age-Design" abzugrenzen (16). Mit
dem Orientierungsverlust verbindet sich außerdem die Verkündigung
des „Endes des Individuums". R. fordert dagegen eine
„nachindividualistische Moral", welche dem radikalen Individualismus
den Abschied gibt und mit Dahrendorfs Formel von
„Optionen und Ligaturen" nach Handlungsalternativen und
Verbindlichkeiten sucht und fragt. Der Mensch wird zur
„Selbsttranszendenz" nur fähig, wenn er der Versuchung individualistischer
Selbstentfaltung und eines bloßen Hedonismus
sich versagt (18-21). An Tillich und L0gstrup erinnernd greift
R. indirekt das Thema des Normativen und der Verbindlichkeit
von Normen auf.

Der Teil II „Freiheit. Modernität und neue Moral" vertieft in
drei Beiträgen diese These. Der erste Beitrag „Radikale neue
Moral" (23-47) kommentiert und belegt ausführlich die These
der „Einleitung". Modernität und Individualität haben zwar kritisch
Lebensführungsmodelle destruiert. Der Begriff „gesellschaftliche
Aleatorik" (Kurt Lüscher), einer zufälligen Form
der Konstitution von Identität, kennzeichnet aber die gegenwärtige
Lage (36). Die Rückfrage nach „Geltung und Verantwortung
" (39ff.) ist deshalb heute neu zu stellen. Mit Trutz Rend-
torff meint Verantwortung „die Einlösung des ethischen Sinnes
von Gesetz und Norm" (46). Der 2. Beitrag „Gemeinschaft und
Gesellschaft" (48-65) enthält im Grundbestand den TRE-Artikel
„Gemeinschaft"; der Beitrag ist materialreich, informativ,
aber auch wenig profiliert. Man vermißt z.B. eine Klärung des
Begriffs „Kommunitarismus" (54). Der 3. Beitrag „Verfaßte
Kirche und distanzierte Kirchlichkeit" (66-78) dokumentiert die
Antrittsvorlesung des Vf.s vom April 1969. Diese ist eine aufschlußreiche
Erinnerung an eine religionssoziologische Debatte
der 60er Jahre, um Dauerreflexion und Säkularisierung, in der
H. Schelsky, T. Luckmann, O. Wölber Wortführer waren. Der
25 Jahre alte Text veranschaulicht schön die Kontinuität der
Überlegungen R.s.

Teil III „Liebe. Sinngeschichte und heutiges Verständnis"
(79ff.) enthält im wesentlichen eine Überarb. Fassung des TRE-
Artikels „Liebe" (79-89: „Christlicher Sinnhorizont", 90-104
„Ethische Perspektiven"). Wie bei der Wiederveröffentlichung