Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1995

Spalte:

139-141

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Varo, Francisco

Titel/Untertitel:

Los cantos del siervo en la exegesis hispano-hebrea 1995

Rezensent:

Kessler, Rainer

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

139

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 2

140

Erkenntnisfortschritt im Bereich frühjüdischer Literatur hat
auch Folgen für das Verständnis des NT. So bedarf die Diskussion
um das Problem der Parusieverzögerung wohl gründlicher
Revision. In Qumran jedenfalls hat es Naherwartung des Endes
über mehrere Generationen hinweg gegeben, und dies trotz
zugleich erkennbarer Enttäuschungen. Das eröffnet, wie St.
andeutet, auch im Blick auf das Urchristentum neue Perspektiven
.

Weingarten Roland Bergmeier

Varo, Francisco: Los Cantos del siervo en la exegesis Hi-
spano-Hebrea. Cajasur, Cordoba: Publicaciones del Monte de
Piedad y Caja de Ahorros de Cordoba 1993. 334 S. gr.8°.
ISBN 84-7959-027-0.

V.s in Salamanca verteidigte Dissertation, die acht mittelalterliche
spanisch-hebräische Autoren behandelt, ist von Interesse
sowohl für Historiker als auch für Judaisten als auch für Altte-
stamentler. Obwohl der Autor selbst im Vorwort den starken
Impuls hervorhebt, der für ihn als Spanier von der Befassung
mit der 1492 aus Spanien vertriebenen jüdischen Gemeinschaft
ausgeht und man aus dem Buch einiges über deren Lebensverhältnisse
erfahren kann, soll hier nur auf den judaistischen und
alttestamentlichen Aspekt eingegangen werden.

Indem V. die jüdischen Autoren danach auswählt, ob sie sich
zu den Gottesknechtsliedern aus dem zweiten Teil des Jesajabu-
ches geäußert haben, stellt er einen wesentlichen kontroverstheologischen
Textkomplex in den Mittelpunkt, der seit den
Tagen der frühen Kirche zwischen Juden und Christen heftig
umstritten war. Allerdings geht es ihm selbst nicht um Kontroverstheologie
und schon gar nicht um Polemik, sondern ausschließlich
um Forschungsgeschichte (41). Nach einer Einleitung
(15-41), die das Forschungsproblem umreißt, einen knappen
Abriß der Auslegungsgeschichte gibt und die Epoche der
spanisch-hebräischen Literatur vom 10.-15. Jh. als Ganze skizziert
, stellt V. die acht von ihm behandelten Autoren der chronologischen
Reihe nach vor. Dabei wird bei jedem zunächst ein
kurzer Abriß seiner Biographie und seines Werkes gegeben,
bevor dann als eigentlicher Hauptteil die einschlägigen Äußerungen
zu den Gottesknechtsliedern in - erstmaliger! (9) - spanischer
Übersetzung und mit Anmerkungen versehen wiedergegeben
werden.

Auf diese Weise werden die folgenden Autoren behandelt: 1)
Der Grammatiker Menachem ben Saruk, der im 10. Jh. seinen
„Machberet" vorlegt, ein Wörterbuch der hebräischen Wurzeln,
das großen Einfluß auf die weitere jüdische Exegese hatte. V.
übersetzt und kommentiert dabei die Ausführungen zu denjenigen
Wurzeln, die für die Auslegung der Gottesknechtslieder
von Bedeutung sind. - 2) Abraham ihn Esra (1089-1164/65), in
dessen Jesajakommentar nicht nur erstmals die These aufgestellt
wird, der zweite Teil des Jesajabuches stamme anders als
Kap. 1-39 nicht von dem Jesaja des 8. Jh.s.. sondern von einem
exilischen Autor, sondern der auch lange vor Duhm die Einheit
der Gottesknechtslieder als eigenständige Größe in Deuteroje-
saja erkennt. - Mit 3) Jakob ben Reuben (12. Jh.) beginnt die
lange Reihe der Autoren, deren Texte im Zusammenhang mit
den den Juden aufgezwungenen Religionsdisputen stehen. So
liefert Jakob selbst keine durchgehende Exegese der Gottesknechtslieder
, sondern stellt in einzelnen zentralen Fragen die
christliche und seine eigene Meinung gegenüber. - 4) Der große
Nachmanides (1194-1270) vereint in sich die verschiedensten
Einflüsse: den Versuch einer Synthese von Aristotelismus und
jüdischer Glaubenstradition bei Maimonides, die im 13. Jh.
nach Spanien vordringende Frömmigkeitstradition der franzö-
sisch-rheinländischen Meister und die rationale grammatikalisch
-philologische Exegese der spanischen Schule. - Mit 5)
Mosche ha-Kohen ibn Krischpin (1. H. 14. Jh.) nimmt V. einen
Autor auf, der bisher praktisch nicht rezipiert wurde. Seine
inhaltlichen Positionen zu den Gottesknechtsliedern unterscheiden
sich nicht von denen, die auch früher schon vertreten wurden
. Neu aber ist seine Argumentationsweise, die sich an neuplatonisches
Gedankengut anlehnt, indem er etwa beim Messias
zwischen dessen Seele und seinem Körper als dem Gefängnis
dieser Seele unterscheidet. - 6) Sein Namensvetter Mosche ha-
Kohen de Tordesillas (2. H. 14. Jh.) legt mit seinem „Eser ha-
'Emuna" eine leidenschaftliche Disputationsschrift vor. Auch
hier sind weniger die inhaltlichen Positionen als die Argumentationsweise
von Interesse, die diesmal aber von aristotelisch-
thomistischem Einfluß geprägt ist. - 7) Dessen Zeitgenosse
Schern Tob ibn Schaprut, dem V. geringe Originalität bescheinigt
, setzt sich intensiver als seine Vorgänger direkt mit der
christlichen Literatur auseinander. Von ihm stammt die erste
und einzige hebräische Übersetzung des Matthäusevangeliums
im Mittelalter. - 8) Isaak Abrabanel (1437-1508) schließlich
kann seinen Jesajakommentar schon nicht mehr in Spanien
abfassen, da auch er, obwohl über höchsten Einfluß verfügend
und diesen auch einsetzend, 1492 aus seiner Heimat vertrieben
wird. Er vereint nicht nur viele Positionen, die in den Jahrhunderten
vor ihm entwickelt wurden, sondern setzt sich auch in
expliziter Kritik mit ihnen auseinander.

Daß in sechs Jahrhunderten Auslegung unterschiedliche Positionen
entwickelt und unterschiedliche Begründungsmuster
verwendet werden, verwundert nicht. Erstaunlicher ist vielmehr
die Fülle der Positionen, die gleichzeitig nebeneinander stehen.
Dies wird besonders deutlich bei der Frage nach der Identifizierung
des Gottesknechtes. Steht für die christliche Auslegung
seit Apg 8 fest, daß Jes 53 auf Jesus von Nazareth, den Christus
und Sohn Gottes, zu deuten sei, so vertreten die jüdischen Exe-
geten eine Fülle alternativer Positionen. In der rabbinischen
Tradition dominiert die messianische Auffassung, auch wenn
sie natürlich nicht auf Jesus von Nazareth bezogen wird. Erst
mit dem ersten Kreuzzug und den dabei aufkommenden Judenverfolgungen
gewinnt die kollektive Deutung auf das Volk Israel
die Oberhand. Daneben aber werden zahlreiche andere Auslegungen
vertreten, wobei manche Autoren mehrere Deutungen
gleichzeitig stehenlassen bzw. für die verschiedenen Gottesknechtslieder
unterschiedliche Identifizierungen für möglich
halten. Erwähnt seien nur die Vorschläge, im Gottesknecht den
Propheten Jesaja selbst oder aber den Propheten Jeremia. die
judäischen Könige Hiskia oder Josia oder gar den Perserkönig
Kyros zu sehen. Für den von der christlichen Auslegungstradition
mit ihrem Hang zur alternativlosen Eindeutigkeit geprägten
Exegeten ist solche Offenheit und Vielfalt der jüdischen Exegese
immer wieder beeindruckend.

Für den deutschsprachigen Forscher - ob er nun stärker
judaistisch an mittelalterlicher jüdischer Exegese interessiert ist
oder stärker alttcstamentlich an der Auslegung der Gottesknechtslieder
- ist das Buch nur eingeschränkt brauchbar, dann
aber auch unverzichtbar. Die Einschränkung kommt daher, daß
V. nur Autoren vorstellt, die aul der iberischen Halbinsel geboren
sind oder dort den größten Teil ihres Werkes verfaßt haben
(283). Daß dies für das Selbstverständnis der jüdischen Gemeinschaft
im Mittelalter ein angemessenes Auswahlkriterium
ist. kann bezweifelt werden. Vor allem fehlen so in V.s Auswahl
die großen Jesajakommentare von Raschi und David
Kimchi, weil diese in Frankreich gelebt haben. Ohne deren
Kenntnis jedoch bleibt die jüdische Auslegung der Gottesknechtslieder
Fragment. Die zweite Einschränkung rührt natürlich
daher, daß die Texte in spanischer Übersetzung geboten
werden - was das Buch für den spanischen Kontext allerdings
um so wertvoller macht. So wird man V.s Arbeit nicht benutzen
können, ohne daneben das monumentale zweibändige Werk