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Ausgabe:

1995

Spalte:

110-1102

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Titel/Untertitel:

daemon - hysteron proteron 1995

Rezensent:

B., S.

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 2

Diese auffallende Zurückhaltung hat neben dem bereits erwähnten
hohen Grad an historischer Hypothetizität mehrere
•nnertheologische Gründe:

Zuerst ist die innerexegetische Entwicklung zu nennen, die
•m gleichen Zeitraum um 1900 bis 1940 zwei neue Methoden
hervorbrachte: die Überlieferungsgeschichte und die Formge-
schichte. Es ist eine der wesentlichen Einsichten dieser Methoden
, daß man aufgrund der Formen der Tradition feststellen
muß, daß erstens die alttestamentliche Literatur eine längere
Phase mündlicher Tradierung hinter sich hat und daß sie zweitens
eine längere literarische Entstehungsgeschichte durchlaufen
hat. Das bedeutet, an der Produktion alttestamcntlicher Texte
bis hin zu ihrer jetzigen Endgestalt sind eine Vielzahl von
Personen, eine unbestimmte größere Anzahl von anonymen
Seelen beteiligt gewesen. Es war nicht ein Autor am Werk, den
man aufgrund seiner Schriftstellerei psychologisch beschreiben
könnte. Diese streng methodisch gewonnene Einsicht, daß das
Alte Testament in einem vielstufigen Fortschreibungsprozeß
entstandene Überlieferungsliteratur darstellt, bedeutete eigentlich
das Ende zumindest der individualpsychologischen Betrachtung
. So leitet z.B. Ernst Ludwig Ehrlich seine monographische
Untersuchung des Traumes im Alten Testament folgendermaßen
ein: ..Es mag...verwunderlich erscheinen, wenn hier
die moderne Tiefenpsychologie, über deren Verdienste sich der
Autor im klaren ist, beiseite gelassen wird. Diese Notwendigkeit
ergibt sich aus dem Stoffe selbst. Die alttestamentlichen
Schriftsteller, die uns von .Träumen' berichten, haben diese
Träume nicht selbst geträumt, sondern es handelt sich dabei um
ein Stilmittel... Ein solches literarisches Produkt ist im allgemeinen
anders zu beurteilen als ein wirklich geträumter Traum.
Der Traum im Alten Testament ist weniger ein psychologisches
Phänomen als vor allem ein traditions- und religionsgeschichtliches
."1'»

In der gleichen Richtung der Beurteilung wirkte zweitens ein
mentalitätsgeschichtlich bedeutsamer Umschwung von der
sogenannten „liberalen Theologie" hin zur „dialektischen Theologie
", der sich unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges und
der damit ausgelösten Krise des optimistischen Idealismus völlig
. Insbesondere der junge Karl Barth hat alle Psychologie als
Hilfsmittel der Theologie schroff abgelehnt: Die Psychologie
verfolgt nach Barth nur die Frage nach dem Menschen und läuft
damit der eigentlichen theologischen Frage nach Gott strictissi-
n,e entgegen. Mit der rcligionsgeschichtlichen Fragestellung
geriet auch die psychologische Schriftauslegung unter die Räder
der theologischen Geistesgeschichte.

Zu diesen beiden Haupteinwänden kam hinzu, daß die weithin
atheistische und antikirchliche Grundhaltung der führenden
Psychologie-Theoretiker der Methode als solcher bei den Theo-
logen großen Mißkredit und tiefsitzendes Mißtrauen einbrachte.
Schließlich war und ist viertens auch noch die Psychologie als
Wissenschaft über den Rang der jeweiligen Schulentwürfe von
Freud, Jung oder Adler sehr zerstritten: nicht selten wurde diesen
tiefenpsychologischen Forschungszweigen von der Schul-
Psychologie und -psychiatrie alle Wissenschaftlichkeit abgesprochen15
. Tiefenpsychologie hatte es schwer, sich als Hilfe
mr das Verstehen des Alten Testaments Anerkennung zu ver-
sehaffen. So war es noch zu Zeiten meines Studiums eine gera-

E. L. Ehrlich. Der Traum im Alten Testament (B/.AW 73), Berlin
l95J. V (Sperrung M. O.).

Vgl. z.b. D. Zimmer. Tiefenschwindel. Eine endlose und beendbare
yeboanalyse, 1986. - Die tiefenpsychologische Schriftauslegunj wird von
••gelernten" Psychologen scharf kritisiert, weil die Psychoanalyse keine
rechte Wissenschaft sei; vgl. paradigmatisch A. A. Buchers Darstellung von
reuu. Jung und Drewermann, die diese weitgehend als wilde Phantasten
Rheinen laßt. a.a.O. 15-86.

dezu vernichtende Kritik, wenn einem Ausleger nachgewiesen
werden konnte, daß er „psychologisiert"16. Mein eigener verehrter
Lehrer Prof. Gunneweg hat uns noch Mitte der 80er Jahre
Mißtrauen gegen jede Form psychologischer Exegese gelehrt,
weil sie den Ansprüchen von kontrollierbarer Wissenschaftlichkeit
nicht genügt17. Im Grunde muß ich mich fast entschuldigen
, wenn ich mich überhaupt auf dieses Terrain begebe.

Aber die Verhältnisse haben sich in den letzten 15 Jahren
gewandelt. Wir erleben, daß in unserer Gesellschaft tiefenpsychologische
Denkmodelle weitere Verbreitung und zunehmende
Anerkennung finden18. Auch wenn die exegetische Zunft,
d.h. die Vertreter methodisch strenger historisch-kritischer Bi-
belwissenschaft, zu denen ich mich selbst rechnen möchte,
manche Entwicklungen mit großer Sorge und mit Unverständnis
betrachten: Tiefenpsychologische Schriftauslegung wurde
trotz ihrer sachlich begründeten weitgehenden Nichtbeachtung
durch die akademische Zunft von einigen Therapeuten kontinuierlich
gepflegt; sie hat mittlerweile gewisse Klassiker produziert
und erreicht nach langem Schattendasein, nicht zuletzt
durch einige publikumswirksame Zugpferde wie Christa Me-
ves, Hanna Wolff, Eugen Drewermann, Hans Jaschke, Franz
Bugglc oder Maria Kassel gegenwärtig ungeahnte Höhen der
Verbreitung und Akzeptanz. Tiefenpsychologische Auslegungen
sind die heimlichen Bestseller der Bibelwissenschaft19. Die
historisch-kritische Methode hat zumal bei den meisten Studierenden
abgewirtschaftet; die Ankündigung eines Aufsatzes von
Drewermann z.B. weckt wesentlich mehr Interesse als die Ankündigung
einer Arbeit, die mit aller Meisterschaft die Mittel
der Philologie und Textkritik, der Literar- und Redaktionskritik
und auch noch der Überlieferungsgeschichte und der Archäologie
handhabt und die historische Forschung wieder ein gutes
Stück vorangebracht hat. Es scheint immer mehr Zeitgenossen
evident und plausibel, daß die biblischen Erzähler psychische
Probleme in Geschichten von Gott ummünzen, und sie erwarten
von dieser Methode eine bessere Einsicht in die „wahre", sie
selbst unmittelbar betreffende Bedeutung der Heiligen Schrift.
Das liegt nicht nur am Reiz des Neuen, „Verbotenen" und Exotischen
, sondern primär am allgemein positiven Image der Psychologie
. Der historisch-kritischen Methode wird ihre Sachan-
gemessenheit und Lebensnähe selbstbewußt bestritten. Die Tiefenpsychologie
tritt aus ihrer Rolle als Untergrund-Opposition
heraus und möchte die Regierungsverantwortung übernehmen.

Dabei muß man drei verschiedene Ebenen des Psychologisierens unterscheiden
: Psychologisieren kann meinen, sich in die Psyche der Personen,
von denen erzählt wird (z.B. Elia), hineinzuversetzen, oder aber sich in die
Psyche des Erzählers (z.B. DtrH) hineinzufühlen oder drittens das Seelenleben
des heutigen Lesers nachzufühlen. Alle drei Formen unterliegen der Kritik
, insbesondere die beiden ersten.

17 Dafür berief er sich gerne auf R. Bultmann, bes. auf dessen Aufsatz
..Das Problem der Hermeneutik" (GuV II. 211-235). Zur Abweisung des
„psychologischen" Mißverständnisses der Religion durch Bultmann vgl. M.
Evang, Rudolf Bultmann in seiner Frühzeit (BHTh 74), 1988, 276-278.

1!< Der deutlichste Beweis ist vielleicht, daß psychoanalytische Behandlungen
von der Krankenkasse in gewissem Umfang bezahlt werden.

19 Angesichts der üblichen bescheidenen Verkaufszahlen bedenke man
z.B. Eugen Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese. 8. Aufl. 1990;
kartonierte .Studienausgabe 4. Aufl. 1992; Ders., Strukturen des Bösen, 8.
Aufl. 1992; Christa Meves, Die Bibel antwortet uns in Bildern. Tiefenpsychologische
Textdeutungen im Hinblick auf Lebensfragen heute, 15. Aufl.
1990; Hanna Wolff, Jesus als Psychotherapeut, 9. Aufl. 1990; Dies., Jesus
der Mann, 10. Aufl. 1990; Dies., Neuer Wein - Alte Schläuche. Das Identitätsproblem
des Christentums im Lichte der Tiefenpsychologie, 4. Aufl.
1990. Dabei spielt kaum der Gedanke eine Rolle, daß diese Zugangsform
progressiv wäre. Auch wertkonservative Tiefenpsychologie wie diejenige
von Ch. Meves oder J. Chasseguet-Smirgel (Zwei Bäume im Garten. Zur
psychischen Bedeutung der Vater- und Mutterbilder, 2. Aufl. 1992; franz..
Orig. 1983) wird vielfach gelesen.