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Ausgabe:

1995

Spalte:

107-120

Autor/Hrsg.:

Oeming, Manfred

Titel/Untertitel:

Altes Testament und Tiefenpsychologie 1995

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 2

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Manfred Oeming
Altes Testament und Tiefenpsychologie1

Aufklärung oder Freudsche Fehlleistung?

1. Das Wesen tiefenpsychologischer Schriftauslegung2

Psychoanalyse und Tiefenpsychologie verstehen sich selbst
auch und gerade auf dem Gebiet der Religion als eine Form der
Aufklärung. Das, was in der Religion als Transzendenz, als ein
personal gedachtes Gegenüber angesehen wird, nämlich Gott,
ist in tiefenpsychologischer Perspektive ein Ausdruck innerpsychischer
Vorgänge. Man muß also zumindest zwei Bedeutungsebenen
auseinanderhalten: das, was außerhalb des Glaubenden
sich vollzieht oder vollzogen haben soll, und das, was sich im
Glaubenden selbst abspielt - wenn auch vielfach unbewußt. Die
Aufgabe der analytischen Religionspsychologie ist es, diese
Dimensionen klar zu scheiden und die seelische Bedeutung religiöser
Vorstellungen aufzuzeigen: In den religiösen Texten
werden intrapsychische Vorgänge symbolisch verschlüsselt
ausgedrückt. Stephen Reid formulierte 1973 den Grundsatz folgendermaßen
: "we have... to attribute to the poets intuitive
knowledge which the psychoanalytic method has painstakingly
discovered"^. Die Autoren der Bibel haben also in ihre Texte
eine ihnen selbst unbewußte intuitive Kenntnis von seelischen
Gegebenheiten einfließen lassen, die in der Psychoanalyse als
wissenschaftlicher Methode erst nachträglich und mühselig erforscht
und in die Klarheit des Begriffes gefaßt wurde.

Die Aufgabe tiefenpsychologischer ß/7?<?/auslegung ist es entsprechend
, das scheinbar und oberflächlich betrachtet in einer
realen Außenwelt spielende Geschehen, das Objektale, auf seine
reale psychische Innenwelt, das Subjektale, hin durchsichtig
zu machen und auszudeuten. Z.B. ist nach Alfred Adler der
Kampf zwischen Jakob und Esau um den Segen, Jakobs Traum
von der Himmelsleiter sowie das Ringen Jakobs mit Gott („Ich
lasse dich nicht, du segnest mich denn" Gen 32,27) unbewußter
Ausdruck des aus der Analysepraxis wohl vertrauten Geschwisterkonflikts
, in dem der Zweitgeborene den Älteren um jeden
Preis zu überflügeln versucht4. Analytisch betrachtet gehe es
insbesondere beim Kampf am Jabok um ein Ringen des Autors
mit seiner unterbewußten Beziehung zu seinem Vater5. Diese
Deutung von Aussagen über Gott als Aussagen über den Menschen
muß nicht per se atheistisch sein6, wenn auch sehr häufig
das Aufdecken der psychischen Bedeutung als Enthüllung der
„wahren" Bedeutung verstanden und die Annahme einer darüber
hinausliegenden transzendenten Wirklichkeit als Illusion
und Täuschung attackiert wird.

' Antrittsvorlesung vom 1. Juni 1994 im Rahmen der Berufung auf den
Lehrstuhl für Altes Testament und Antikes Judentum im Faehbereich Kulturwissenschaft
an der Universität Osnabrück.

~ Die Tiefenpsychologie möchte ich hier nicht in ihre verschiedenen Schulen
ausdifferenzieren, sondern fasse alle Theorien darunter, die dem Unterbewußtsein
des Menschen eine wesentliche Rolle bei der Textproduktion
zumessen und entsprechend davon überzeugt sind, dafi man aus der Analyse
der Texte auf psychische Prozesse zurückschließen kann.

3 St. A. Reid, The Book of Job. The Psychoanalytic Review 60, 1973. 373-
391, hier 376.

4 A. Adler. Der Sinn des Lebens (Fischer TB 6179), 1973, 143f.

5 Vgl. aberTh. Reik. Psychoanalytische Studien zur Bibelexegese, I, Imago
5, 1919, 325-343, der eine Entstehungsgeschichte des Textes mit unterbewußten
Vorgängen vorträgt und letztlich zu dem Resultat gelangt, daß es um die
„partielle Besiegung des Vaters... ebenso wie die Versöhnung mit ihm und
seinem Andenken" geht (343). - vgl. A. A. Bucher. Bibelpsychologie. 1992,
15-18.39-42. der eine Freudsche und Jungsche Interpretation referiert und
kräftig kritisiert.

6 „Die Psychoanalyse lehrt uns nichts direkt über Gott, weder positiv noch
negativ, aber einiges darüber, warum und wie Menschen an ihn glauben. Uber
die .seelische Matrix' der Theologie... führt die Psychoanalyse nicht hinaus."
(H. Raguse, Psychoanalyse und biblische Interpretation. 1993, 255).

Psychoanalytische Texthermeneutik ist sehr genau7. Sie versucht
, insbesondere die kleinen Spannungen, die logischen
Brüche und Ungereimtheiten an den Texten wahrzunehmend
Denn die unbewußten Motive dafür, daß ein Text so und nicht
anders gestaltet wurde, kann man zumeist nur aus den Details
erheben. Methodisch ist dieses Vorgehen eng mit der rabbini-
schen Hermeneutik verwandt, die ebenfalls aus manchmal
minimalen Details weitreichende Schlüsse für die Gesamtdeutung
eines Textes zieht. In der Literatur findet man sogar die
These, daß die Psychoanalyse nur von einem Juden, der wie
Freud mit rabbinischer Hermeneutik und der Kabbala vertraut
war, entwickelt werden konnte9. Man sollte aber auch an die
altkirchliche Lehre vom vielfachen Schriftsinn als geistigen
Wurzelgrund denken'"-

2. Zur Geschichte der Rezeption tiefenpsychologischer
Bibelauslegungen

Trotz dieser Nähe zu jüdischen und kirchlichen Interpretationsformen
wurde die wissenschaftliche tiefenpsychologische
Schriftauslegung, die zwischen 1900 bis 1940 grundlegend
konzipiert wurde, fast gar nicht in die wissenschaftliche Exegese
übernommen. Zumeist wurden die Deutungen Freuds - vor
allem seine historischen Hypothesen über die Urhorde, den
Mord am Urvater und die Deifizierung des Totems oder über
einen Aufenthalt des Mannes Mose am Hofe Echnatons, aber
auch seine Einstufung der Bedeutung des Sexuell-Libidinösen -
als völlig abwegig angesehen; sie galten teilweise als schockierend
plumper Aufguß der frühaufklärerischen Religionskritik11.
Auch C. G. Jungs Lehre von den Archetypen fand wenig Anerkennung
; sie stand im Verdacht, religionsgeschichtliche Differenzierungen
in einen neugnostischen religiösen Einheitsbrei
zusammenzumengen und wenig für die präzise Texterforschung
auszutragen12. Die Einsichten Freuds und Jungs cum suis wurden
daher in der Fachexegese schleppend und höchstens partiell
rezipiert13; auf die hebräische Bibel wurde die Methode fast
ausschließlich von den Tiefenpsychologen selbst angewendet.

7 Vgl. dazu bes. die eindringliche Analyse von Raguse, a.a.O. 210-250.

x Zur Übersicht über die Weite der Methode und ihrer Anwendung auf
nicht-religiöse Texte vgl. J. Pfeiffer. Literaturpsychologie 1945-1987, 1989,
bes. Nr. 2350-2398. - W. Schönau, Einführung in die psychoanalytische
Literaturwissenschaft (Sammlung Metzler 259), 1901.

9 Z.B. D. Bakan, Freud and the Jewish Mystical Tradition, 1954, der
Freud als Krypto-Sabbatisten und abtrünnigen Messianisten verstehen
möchte. Überhaupt ist das Verhältnis Freuds zu seinem Judentum ein sehr
spannendes Phänomen, vgl. B. Stokvis, Freud als Jude, Acta Psychothera-
peulica 4. 280. 1956; Ders., Kulturpsychologie und Psychohygiene, 1965; P-
Gay, Freud, Juden und andere Deutsche. Herren und Opfer in der modernen
Kultur. 1986 (engl. Orig. 1978); J.-L. Evard, Der Mann Freud und der Antisemitismus
. Fragmente 29/30, 1989, 27-42. - H. Beland, Religiöse Wurzeln
des Antisemitismus. Bemerkungen zu Freuds „Der Mann Mose und die
monotheistische Religion" und zu einigen neueren psychoanalytischen
Beiträgen, Psyche 45, 1991, 448-470 (eine ausgezeichnete Studie, der ich
viele Einsichten und Anregungen verdanke).

I() So Raguse, a.a.O. 232-234.

11 Vgl. E. Wiesenhütter. Freud und seine Kritiker (EdF 24), 1974, bes.
217-238; J. Klauber, Freuds Ansichten zur Religion aus der heutigen Sicht,
Psyche 16, 1962/63, 50-57; J. Scharfenberg. Die Rezeption der Psychoanalyse
in der Theologie, in: J. Cremerius [Hg.|. Die Rezeption der Psychoanalyse
in der Soziologie, Psychologie und Theologie im deutschsprachigen
Raum bis 1940. 1981. 255-338.

12 Vgl. G. Wehr, C. G. Jung und das Christentum, 1975, 177-186. - Y.
Spiegel, C. G. Jung unter den Theologen: Kritische Anfragen an die theologische
Jung-Rezeption. WzM 40, 1988, 157-162.

" Vgl. A. Vergote, Psychanalyse et Interpretation biblique, DB S IX,
1979, 252-260, bes. 252f.