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Ausgabe:

1995

Kategorie:

Religions- und Kirchensoziologie

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Neuerscheinungen

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 12

totalitären Regime mit der Vorstellung einer gleichgeschalteten sehen, weltoffeneren Institution gewandelt hatte", wieder an

Gesellschaft das Verständnis für das Leben in der DDR und den gesellschaftlicher Attraktivität gewonnen (443f).

Weg der Kirchen dort? Wie wäre dann der rasante Umbruch, die Zum Verhalten der Kirche: Anfangs habe ein Selbstbewußt-

•mplosion des Systems, erklären? sein, das sich auf den stabilen Mitgliederbestand der Bevölke-

Dem Vf. geht es um ein genaues, differenzierendes Beschrei- rungsmehrheit und die verbreitete Überzeugung mangelnder
ben allgemeiner Bedingungen und jeweils besonderer Situatio- demokratischer Legitimation des Regimes bezog, dominiert (84).
nen. Ohne den totalitären Habitus des Regimes zu leugnen, ver- Das Schwinden der Wiedervereinigungshoffnung veranlaßte
Weist er auf die Grenzen des Zugriffs der administrativen Steue- dann eine erste grundsätzliche Besinnnung der Kirche auf ihre
rungs-, Kontroll- und Unterdrückungsmechanismen, auf Diffe- Position in der DDR. Der Vf. referiert die 1956 von Günter Ja-
renzierungen. Abweichungen und Konfliktlinien in der freilich cob vertretene Sicht: die vom „Ende des konstantinischen Zeit-
uniform geplanten Gesamtgesellschaft. Zu beachten sei, daß auch alters", das auf Ost und West gemeinsam bezogene „Säkulari-
die SHD eine ..moderne Industriegesellschaft" schaffen wollte, sicrungstheorem", die von der Verheißung für die „kleinen Ge-
sich also auf wachsende funktionale Differenzierungen einlassen meinden" ausgehende Handlungsmotivation. Zu den „theolo-
mußte, ohne dabei freilich ihren zentralen Steuerungsanspruch gisch steilen Sätzen Günter Jacobs" stellt der Vf. dann aber die
preisgeben zu wollen. „Organisationsgesellschaft" lautet der vom Rückfrage, ob sie nicht ihrerseits „von der volkskirchlichen
Vf. geprägte soziologische Schlüsselbegriff für die DDR: Tradition, gegen die sie polemisierten", gezehrt hätten (160 ff.).

Durch Zentralisierung und hierarchische Unterordnung wollte die SED Ahnlich werden auch spätere kirchliche Äußerungen referiert
•die gesamte Gesellschaft als ihre Organisation" einrichten (60) - eine Kon- und reflektiert: das Selbstverständnis des Kirchenbundes, die
«ruktioo mit einem unüherwindbaren Grundwiderspruch. Hinter dem These vo„ der „Gratwanderung" zwischen Anpassung und Ver-
urauschleier politischer Entmündiiiunti und langweiliger Uniformitiit sei die . .... ~ r e
DDR ..eine Gesellschaft voller Spannungen und" Bruche, voller Gegensatze, Weigerung mit den in diesem Zusammenhang vertretenen Max-
Halbheiten und Nischen" gewesen (11). Wer dies übersieht, gleichwohl aber men (-Öffnung für die Gesellschaft, „Intensivierung" des
den Weg der Kirche in der DDR beschreiben und beurteilen will, verstrickt Lebens und Zeugnisses der Gemeinden, die Rede von der „Kir-
sich selbst, wie P. an der von Besier vertretenen Sicht illustriert, in seltsame che für andere").

Widersprüche, insofern einerseits die DDR als monolithische Repressionsge- Wieder fragt der Vf., ob hier nicht das institutionelle Moment

Seilschaft beschrieben, andererseits aber im Sinne von Bedingungen der Irei- unterschätzt und die spirituelle Dimension überschätzt worden

neitlichen Demokratie postuliert wird: ..Hatte man nur gewollt . so hatte man . r . .

«faes Regime verändern und zun, Einsturz bringen können - um dieses Ver- sei, ferner: ob nicht der „Sp.r.tualis.erungstendenz" eine „Verdienst
schließlich einer „Handvoll Oppositioneller" innerhalb eines (inklusi- kennung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der sich die
ve Kirche) total gleichgeschalteten Systems zuzuschreiben (10). Kirche bewegte" korrespondiert habe, ob die Formel „Kirche
Der Vf. berücksichtigt und verarbeitet ein großes Pensum im Sozialismus" nicht doch vor allem taktisch darauf abgezielt
einschlägiger Literatur. Darüber hinaus beruht ein kirchenstati- habe, die Lage der Kirche und die Situation der Christen in der
stisches und -soziologisches Kapitel über „Religiosität und DDR zu verbessern (249).

Kirchlichkeif (373-445) auf eigenen Recherchen in landes- Das verlaufsgeschichtlich sehr informative und problemori-

kirchlichen Materialien. Inhaltlich bewegt sich die Arbeit in entiert anregende Buch ist eine äußerst lohnende Lektüre, die

e'nem „Zwischenbereich zwischen Soziologie und Zeitge- den Leser durch unprätentiöses, genaues Beschreiben von

schichte". Die „soziologisch durchgearbeitete Prozeßanalyse" Zusammenhängen und Wägen von Faktoren beeindruckt. Die

bezieht sich einerseits auf die von der SED benutzten Machtin- Akzentuierung der soziologisch-prozessualen Sicht veranlaßt

strumente. andererseits auf das Reagieren der Kirche, bei dem gelegentliche Rückfragen:

angesichts der fortschreitenden Minorisierung vor allem der War wirklich die anfänglich liberale Religionspolitik der

Aspekt der „Bestandserhaltung" betont wird, und thematisiert SED dadurch bedingt, daß ihr die Macht „noch nicht sicher

dabei die das Staat-Kirche-Verhältnis bestimmenden „gesamt- war" (78)? Inwieweit wird die wiederholte Zuordnung „theolo-

gesellschaftlichen Verflechtungszusammenhänge". Metho- gischer Hintergründe" im Sinne von sekundär wirkenden Fakto-

tfisch geht es dem Vf. um ein ausgewogenes Verhältnis zwi- ren dem kirchlichen Geschehen gerecht? Außer Frage steht, daß

sehen Theorieaufwand und empirischem Bezug: „Das lockere das Buch ein großer Gewinn für die Debatte über den Weg der

Hin- und Hergehen /wischen theoretischen Annahmen und Kirche unter dem SED-Regime ist und deren Versachlichung

empirischen Analysen" diene dazu, ..aus dem Stoff heraus die fördern wird,
theoretischen Interpretationen erst zu entwickeln" (12).

Zur Kirchenpolitik des SED-Regimes betont P. zu Recht, daß
sie ein Teil der Gesamtpolitik der Partei war. Eine „Doppelstrategie
" von Ausgrenzung und Einbeziehung habe die Kirche aus Bater, B. Robert: Apocalyptic Religion in Christian Fundamentalisin (In;
dem Raum der Öffentlichkeit verdrängen und auf eine rein kult- Wallace, M. [., and T. H. Smith: Curing Violence. Sonoma: Polebridge
kirchliche Praxis begrenzen, andererseits aber äußeren Zwang Press 1994^287-304)

lm, ~ ' ° 77e . , „. . h ,„lt, „„rmpiHpn sol Collet, Giancarlo: Vom theologischen Vandahsmus zum theo og sehen

und offene Konflikte mit der Kirche möglichst vermeiden sol Romantizismus7 Fragen einer multaMltureIien Menüliil tlos Christentums

'en (81 f.. 159 u.ö.). Dieser Politik gegenüber sei die Kirche (ln. |Bertsch- L ]: Inkulturation und Kontextualität. Frankfurt/M.: Knecht

weitgehend machtlos gewesen. 1994. 37-49).

Eindringliche Überlegungen gelten den der Kirche verfügba- Cortes. Benjamin: Seeking a New Society: Resurrection and Solidarity

ren Mitteln des Reagierens. Der Vf. betont die „enormen Positi- (ER 46, 1994, 334-337). du*

„„„ , „ . ... , . . . A.,cnrpnviino mistlen ee- Dannowski. H. W , Grunberg. W . Goplert. M . Krusche. G . u. R. Mei-

°ni Verluste" der Kirche durch deren Ausgrenzung aus den ge ster.Karanjkas |Hrsg ]: KirchM jn ^m . umJ

seilschaftlichen Lebenszusammenhangen . Uegeniduiigc rio- Bd. 2: Religion als Wahrheit und Ware. Bd. 3: Die Armen und die Reichen,

zesse der ..funktionalen Differenzierung" hätten dies nicht etwa Soziale Gerechtigkeit in der Stadt'.' Bd. 4: Götter auf der Durchreise - Kno-

kompensiert. sondern noch verstärkt, da die „Wohlstandsanhe- tenpunkte des religiösen Verkehrs. Bd. 5: City-Kirchen. Bilanz und Per-

hunsz" die Intecrationskrafl des Systems zunächst noch erhöht spektiven. Hamburg: E.B.-Verlag.

habe Mehr noch als gezielte Maßnahmen hätte das „abgestufte Faust Susanna: Konfession und Wahlvertuuten. Ein Literaturberiehl zu

uc ivienr noen dis gezielte wn Mehrheit verschiedenen Studien über konfessionsbedingtes Wahlverhalten (MD 46.

Privilegiensvsieni". durch das das Regime sich „die rvienrneit 1995> 28-31).

der Bevölkerung zur Loyalität zu verpflichten" verstand, der Fejge Andreas. öffentlichkeit und öffentliche Meinung (StZ 119, 1994,

Kirche geschadet. Erst beim völligen Versagen des Systems 316-324).

gegenüber den wachsenden Modernisierungsanforderungen Gill, Robin: Soziologie, Theologie und Religionspädagogik (US 50.

habe die Kirche, die sich ihrerseits „zu einer mehr pluralisti- 1995.9-14).

Berlin Rudolf Mau