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Ausgabe:

1995

Spalte:

1136-1138

Kategorie:

Religions- und Kirchensoziologie

Autor/Hrsg.:

Pollack, Detlef

Titel/Untertitel:

Kirche in der Organisationsgesellschaft 1995

Rezensent:

Mau, Rudolf

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I [35

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 12

I 136

Eine spezielle Anmerkung zum Schluß: Bei der Breite der
einbezogenen Literatur auch und gerade aus den 60er und 70er
Jahren fallt auf, daß Rolf Schwendters „Theorie der Subkultur"
(Kiepenheuer & Witsch 1971) gänzlich unbeachtet und unerwähnt
bleibt. Gerade diese Studie aber hatte versucht, sich
ihrerseits soziologisch reflektiert mit dem Geist des Aufbruchs,
mit „Gegen-Institutionen", mit den Beziehungen zwischen (regressiven
und progressiven) Subkulturen und der kompakten
Mehrheit der Gesellschaft und ihren möglichen Veränderungspotentialen
zu befassen. Könnte es sein, daß das Werk des
mehrfach promovierten Schwendter für G. zu sehr zu dem
Lebens- und Denkausdruck einer eigenständigen charismatischen
Bewegung gehört (hat) und damit eher als Primärliteratur
gelten muß?

Marburg Gerhard Marcel Martin

Klein, Stephanie: Theologie und empirische Biographieforschung
. Methodische Zugänge zur Lebens- und Glaubensgeschichte
und ihre Bedeutung für eine erfahrungsbezogene
Theologie. Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1994. 368 S.
gr.8° = Praktische Theologie heute, 19. Kart. DM 59.80.
ISBN 3-17-013176-1.

Das aus einer katholisch-theologischen Dissertation (Würzburg
1993) hervorgegangene Buch zeichnet sich bereits durch seinen
klaren Aufbau aus: Ein erster Teil bietet „theoretische und
methodologische Überlegungen", der zweite Teil eine „empirische
Untersuchung", in der ein einzelnes narratives Interview
ausgewertet wird. Im Anhang wird dieses Interview vollständig
(auf 48 Druckseiten!) wiedergegeben.

Der theoretische Teil dient zwei übergeordneten Zielen:
Zunächst wird gefragt, wie die mit der empirischen Biographieforschung
verbundene Lebens- und Glaubensgeschichte theologisch
verortet werden kann.

In überzeugend ausgearbeiteten, informativen Einzelkapiteln werden folgende
Aspekte thematisiert: das Verhältnis von Glaube in der Lebensge-
schichte und Glaube der Kirche; Anstöße aus der Theologie des (Zweiten
Vatikanischen) Konzils; Theologie der Befreiung; feministische Theologie;
Theologie und Empirie. Gefragt wird dabei jeweils, welche Anstöße und
Deutungsmöglichkeiten sich aus den genannten Diskussionszusammenhängen
für eine theologische Reflexion und Würdigung des Glaubens, wie er
sich in Lebensgeschichten ausbildet, ergeben. Das gemeinsame Ergebnis
der binzelkapitel kann in der Forderung gesehen werden, diesen ..konkreten
" Glauben ernstzunehmen und ihn nicht allein an der Elle einer vorgegebenen
Dogmatik zu messen. So belegt die Autorin ihre These, daß ..sich die
empirische Biographieforschung als ein relevanter und theologisch adäquater
Weg" für eine „praxisorientierte, kontextuelle und erfahrungsbezogene
Theologie" erweisen lasse.

Das zweite Ziel des theoretischen Teils liegt in einer aspektreichen
zusammenfassenden Darstellung und kritischen Diskussion
besonders der sozialwissenschaftlichen (soziologischen)
Biographieforschung. Auch die theologische Biographiefor-
schung wird berücksichtigt, allerdings in einem etwas knapp
gehaltenen Abschnitt. Der Autorin ist zwar zuzustimmen, wenn
sie immer wieder auf die noch (zu) geringe Beachtung biographiebezogener
Fragen in der Theologie verweist - gleichwohl
wären hier noch weitere Anknüpfungspunkte namhaft zu
machen (besonders im protestantischen Bereich).

Durchweg ist jedoch auch im Blick auf diese Kapitel zur Biographieforschung
die umsichtige und zugleich zielstrebige Darstellungsweise
hervorzuheben, durch die das Buch zu einer
wichtigen Informationsquelle für die weitere Arbeit an diesem
Thema werden kann.

Ausführlich werden zwei der heute gängigen Interpretationsverfahren
vorgestellt (Fritz Schützes „erzählanalytischer Ansatz". Ulrich Oever-
manns „strukturale" bzw. „objektive Hermeneutik"), wobei beide auch kritisch
gesehen werden. Zu Recht entscheidet sich die Autorin dagegen, nur

einem dieser Modelle zu folgen. Angesichts der jeweiligen Vor- und Nachteile
schließt sie sich zwar vor allem an Schütze an, übergeht aber auch
nicht die Impulse von Oevermann u.a.

Die empirische Untersuchung, über die im zweiten Hauptteil
berichtet wird, besteht im wesentlichen aus einer sorgfältigen
Interpretation des Interviewtextes. Der narrative Text wird abschnittweise
gedeutet, stets mit Hilfe der sozialwissenschaftlichen
Hermeneutik und vielfach mit theologischen Bezügen.
Li st nachdem dieser lange - bei der Interpretation wie beim Lesen
viel Geduld erfordernde - Weg (über 100 Seiten hinweg)
durchschritten ist, werden vorsichtig verallgemeinernde Folgerungen
gezogen. Hier wird offenbar ernstgemacht mit der häufig
erhobenen Forderung, die Lebenswelt heutiger Menschen
genauso sorgfältig auszulegen, wie wir es für biblische Texte
gewohnt sind.

Das ausgewertete Interview ist eines von 16 Gesprächen, die
von der Autorin mit jüngeren und älteren Personen aus der
westdeutschen Friedensbewegung der 80er Jahre geführt wurden
. Das für die Darstellung ausgewählte Interview stammt von
einer evangelischen Pastorengattin (Jahrgang 1912). Die Lebensgeschichte
dieser Frau ist, wie zu Recht betont wird, aus
mehreren Gründen von besonderem Interesse: Sie stellt ein zeit-
wie theologiegeschichtliches Dokument dar; sie wirft ein wichtiges
Licht auf Fragen der (theologischen) Frauenforschung;
und sie bietet biographische Hintergründe zu den Motiven der
Friedensbewegung.

Insgesamt stellt das Buch eine der bislang am weitesten reichenden
(praktisch-)theologischen Erörterungen zur Biographieforschung
dar. Zwei Desiderate, die diesem Urteil keinen
Abbruch tun und die zum Teil über die vorliegende Darstellung
hinausreichen, seien am Ende gleichwohl erlaubt: - In mancher
Hinsicht greift die Arbeit auf einen emphatisch gebrauchten
Begriff des „Subjekts" zurück. Dieser für die Autorin so wichtige
Begriff bleibt (trotz der Berufung auf Henning Luther) weithin
ungeklärt. - (Religions-)Pädagogische bzw. anthropologische
Aspekte, bei denen sich die Lebensgeschichte mit dem
Generationenzusammenhang und mit Kindheit oder Jugendalter
als eigenen Weisen des Menschseins (Martinus J. Langeveld)
verknüpft, werden den „praktischen Feldern" zugeordnet - und
deshalb nur im Vorübergehen gestreift. Wären sie nicht auch als
grundlegende Bestimmungen (s. Teil I des Buches) aufzunehmen
- nicht zuletzt im Sinne einer an Grundfragen ausgerichteten
Praktischen Theologie?

Auf der Grundlage des vorliegenden Buches können solche
Fragen jetzt erst präziser gestellt werden. Für alle, die in diesem
Bereich weiterarbeiten wollen, stellt es eine unentbehrliche
Grundlage dar.

Mainz Friedrich Schweitzer

Pollack, Detlef: Kirche in der Organisationsgesellschaft.

Zum Wandel der gesellschaftlichen Lage der evangelischen
Kirchen in der DDR. Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer
1994. 515 S. gr.80. Kart. DM 79,-. ISBN 3-17-013048-X.

Der rasche Wechsel von Perspektiven und Urteilen zum Thema
„Kirche in der DDR" hat einem Desiderat besondere Dringlichkeit
verliehen: der Beachtung methodischer Gesichtspunkte, die
der komplexen Gesamtthematik gerecht werden. Das Buch des
Leipziger Religionssoziologen trägt diesem Erfordernis in bedeutendem
Maße Rechnung. Es konzentriert sich auf die soziologische
Fragestellung, die bislang zugunsten der dominierenden
Staat-Kirche-Thematik weitgehend vernachlässigt worden war
oder nur punktuell (und dann auch mit seltsam widersprüchlichen
Thesen) eine Rolle gespielt hatte. Was also ist über die dem
SED-Regime unterworfene Gesellschaft zu sagen, und wie betraf
deren Befindlichkeit die Kirche? Erschließt schon die Rede vom