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Ausgabe:

1995

Spalte:

1133-1135

Kategorie:

Religions- und Kirchensoziologie

Autor/Hrsg.:

Gebhardt, Winfried

Titel/Untertitel:

Charisma als Lebensform 1995

Rezensent:

Martin, Gerhard Marcel

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 12

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konservativen, in den neuen Bundesländern eher mit progressiven
Lebensformen verbunden wird. In den alten Bundesländern
ist der Bildungsstand bei den Kirchenfernen höher, in den neuen
Bundesländern bei den Kirchennahen. Vier Stufen religiöser
Indifferenz sind zu beobachten: Indifferenz gegenüber der Konfession
, dem Christentum, der Religion im weiten Sinn, gegenüber
jeglicher Verbindlichkeit.

Die Aneignung von Sinn durch die Jugendlichen verläuft nach
drei Modellen (im Anschluß an Schöll 1992), dem (vorrangig katholischen
) Modus der Affirmation, dem innovativ-selbstkritischen
(typisch protestantischen) Modus und dem (im Sinn einer
radikalisierten Moderne) simulativ-instrumentellen Modus (in der
Gestalt des Experimentierens. oft als Überforderung erlebt mit
der Folge von Flucht- und Verweigerungstendenzen). Gefragt
wird nach einem Ausweg, einem Typ. „der sich einerseits von den
traditionellen Varianten absetzt, der andererseits gleichwohl nicht
in einem simulativ-instrumentellen Modus aufgeht" (48).

Die Fallstudien: Von insgesamt 13 wurden 6 Fallstudien ausgesucht
, die im vorliegenden Band vorgestellt werden. Es sind
Jugendliche, die der Kirche in gewisser Weise nahestehen (das
schränkt die Bedeutung der Arbeit ein, nachdem Kirchennähe für
den modernen Jugendlichen nun gerade nicht typisch ist). Das
Ergebnis: Keiner der Jugendlichen reflektiert normativ-religiöse
Vorgaben. Jeder (mit einer Ausnahme) löst die Glaubensfragen
auf individuelle Weise. Die Entscheidungen werden fall- und
situationsbezogen getroffen, verfallen aber dennoch nicht der
Beliebigkeit. Soziale, gemeinwohlbezogene, moralische und religiöse
Begründungen sind in den jeweils konkreten Entscheidungen
enthalten. Ein lebenspraktisches Programm wird nicht expliziert
. Die grundsätzliche Individuierung ist kommunitär angelegt
(266). Jeder verortet seine Deutungen in erster Linie in einem
Beziehungsgeflecht zwischen Gleichaltrigen.

Damit gewinnen die Autoren den gesuchten vierten, durchaus
zukunftweisenden Modus religiöser Aneignung, den autonomen
, engagierten, individuierten Typ. Im Gegensatz zum
..klassischen" Protestantismus wird der Zweifel von der Ebene
des Handelns auf die des Glaubens verlagert, ohne daß damit
dem Glauben selbst der Abschied gegeben würde. Abgelehnt
werden aber solche Glaubensaussagen, „die einer sozialen Praxis
in autonomer Regie abträglich erscheinen" (276). Die Konstruktion
von Lebenssinn ist nicht an Dritte delegierbar und nur
in der Auseinandersetzung mit der Lebenspraxis möglich,
womit die simulativ-instrumentelle Aneignung überwunden ist.
So ergibt sich vom Programm wie vom biographischen Material
her ein interessantes Bild, das die Autoren vielleicht manch*
mal zu allzu raschen Folgerungen verleitet (z.B beim Schluß
auf geschlechtsspezifische Unterschiede 268 ff.).

Pädagogisches wollen die Autoren aus der Untersuchung
nicht ableiten, aber empfehlende Tendenzaussagen sind möglich
: Die begleitende Wahrnehmung subjektiver und sozialer
Voraussetzungen bei Kindern und Jugendlichen ist wichtig. Sie
zieht eine größere und umfassendere Differenziertheit des Lernangebotes
nach sich. Und: Fallstudien sollten in die Lehrerbildung
und Fortbildung einbezogen werden, unter dem Stichwort
situationsbezogenen Verstehens.

München Hans-Jürgen Fraas

Gebhardt, Winfried: Charisma als Lebensform. Zur Soziologie
des alternativen Lebens. Berlin: Reimer 1994. X. 295 S. 8°
= Schriften zur Kultursoziologie. 14. ISBN 3-496-02542-5.

Wie lassen sich Dasein und Funktion/Beziehungen von schöpferischen
Neuaulbrüchen in ihren verschiedenen Entwicklungsphasen
und Dynamismen zwischen Integration in die Gesellschaft
und bleibendem Gegenüber zu ihr soziologisch genauso phäno-
metinah wie komplex und akademisch anspruchsvoll erfassen?

Winfried Gebhardt zeichnet in seiner Studie - eine überarbeitete
Fassung seiner Habilitationsschrift (Kulturwissenschaftliche
Fakultät, Universität Bayreuth) - die Grundlinien der Max
Weberschen Theorie des Charismas reproduktiv und produktiv
nach und führt diese in verweisungs- und kenntnisreichen
Gesprächen mit aktuellen, aber auch mit älteren Beiträgen zum
Untersuchungsfeld „Charisma'Vcharismatische Bewegungen
weiter (Kapitel II). Zuvor hat er in Kapitel I dichte Anmerkungen
/um Forschungsstand gemacht In Kapitel III bietet der Vf. drei
Fallstudien von Gruppen, die sich der Integration in die Gesellschaft
mehr oder weniger total und erfolgreich entzogen haben
(christliches Mönchtum; Hutterische Brüder: Monte Veritä). Erst
dann entfaltet er sein eigenes theoretisches Konzept des spezifischen
Gemeinschaftstyps „Charisma als Lebensform" in Abgrenzung
zu und in Bereicherung durch alternative Theorieansätze
(Troeltsch/Lourau/Tumer/Luhmann) und differenziert noch einmal
typologisch zwischen einer „Sonderexistenz", die sich aus
der Institutionenstruktur zurückgezogen hat und solchen „Son-
derexistenzen", die in die [nstitutionenstruktur eingebaut sind
(Kapitel IV). Kapitel V bietet ein kurzes Resümee „Zur Bedeutung
.alternativen Lebens' für gesellschaftliche Ordnungen".

Ausgangspunkt und Drehpunkt der Arbeit bleibt Webers Verständnis
von Charisma „im allgemeinsten Sinne" als „eine spezifische
, weil als außeralltäglich gedachte Kraft oder Zuständ-
lichkeit, die bestimmten Gegenständen, Ideen oder Personen
zugesprochen wird" (34). Der Vf. sprengt gängige Engführungen
der Charisma-Forschung in ihrer Konzentration auf den
charismatischen Führer und seine Anhängerschaft und in ihrer
weitgehenden Ausblendung von Wissens- und kultursoziologischen
Dimensionen. Mit Weber und Forschern der seit der Mitte
der 70er Jahre anhaltenden Weber-Renaissance belaßt er sich
mit den Vorgängen der Veralltäglichung (und einer ihr entgegenwirkenden
„Revitalisierung"), der Versachlichung und der
Institutionalisierung des Charismas und mit den besonderen
Entwicklungen der Neuzeit, in der - nicht nur in der französischen
Revolution das rationalisierte und versachlichte „Charisma
der Vernunft" ausgebildet wird. Max Weber: ..Die charismatische
Verklärung der Vernunft... ist die letzte Form, welche
das Charisma auf seinem schicksalsreichen Weg überhaupt
angenommen hat." (85)

Perspektivisch geht es dem Vf. mit Wolfgang Schluchter und
über ihn hinaus um eine möglichst weitgreifende Theorie des
Charismas, die soziales Handeln und sozialen Wandel genauso
erlaßt w ie das Verständnis von Institutionen und Gesellschaftsgeschichtsschreibung
. Dabei bekommt der Vf. durch seine Leitfragen
mit leicht soziologischem Perspektivenwechsel auch für
theologische Forschung äußerst wichtige Themenbereiche in
den Blick: neben den bereits genannten umfangreichen kirchengeschichtlichen
Vorgängen auch die Jesus-Bewegung sowie das
Verständnis von Askese. Amt. Dogma. Heilige Schrift. ..Sekte"
(im Sinne Troeltschs), Fest und Kirche als Institution. G.s
Ansatz ist beeindruckend weitreichend und umfassend; als
Soziologe wagt er sich tief hinein in die Arbeitsfelder der Reli-
gions-, Kultur- und Geistesgesehichte, der Theologie, der Politikwissenschaft
, der Volkskunde und der Ethnologie. Im dritten
Kapitel präsentiert er hoch differenziert Anschauungsmaterial.
Die folgenden Kapitel, die die Phänomene und Theorieansätze
noch einmal komplexer verbinden sollen, sind allerdings
(jedenfalls ab Seite 190) bisweilen trotz unbestreitbarer systematisierender
Leistungen erheblich redundant. Nach der brillanten
und problemorientierten Darbietung von Theorien und
Praxisdaten (Kapitel I-III) ist der Leser weitgehend geradezu
dazu befähigt, die folgenden Kapitel selbst zu schreiben.

Hoch interessant ist G.s Problemanzeige eines möglichen generellen
Bedeutungsschwundes „alternativen Lebens" angesichts
grundsätzlicher Individualisierung. Enthierarchisierung.
Entstratizifierung und Pluralisierung von Wahlentscheidungen.