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Ausgabe:

1995

Spalte:

1132-1133

Kategorie:

Religions- und Kirchensoziologie

Autor/Hrsg.:

Fischer, Dietlind

Titel/Untertitel:

Lebenspraxis und Religion 1995

Rezensent:

Fraas, Hans-Jürgen

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 12

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zwischen der Verheißung und der Wirklichkeit scheint am
Horizont auf, ohne daß dessen eher lutherische Akzentuierung
mit Gesetz und Evangelium bei B. leitend wäre. Eines hat B.
mit Langes und anderer Kirchenreformer Anliegen aus den 60er
und 70er Jahren allerdings gemeinsam: das bleibende Interesse
an der strukturellen Gestaltung des Evangeliums. Nachdem in
den 80er und 90er Jahren die Leidenschaft bei der Bemühung
um eine solche strukturelle Theologie merklich abgekühlt ist.
wird man durch B.s Buch und durch seine Treue zu den klassischen
Themen der Kirchenreform an die Hand genommen und
freundlich zurückgeführt auf ein Feld vieler unerledigter dringender
Denk- und Handlungsaufgaben.

B. lebt in München, also in einer der Städte Deutschlands, bei
denen ein städtisches Selbstbewußtsein sowieso fortwährend
reflektiert wird. Der Wechsel in der Stadtgeschichte - von der
Herrscherstadt über die Bürgerstadt zur modernen Industriezeitalter
-Metropole bis hin zu einem Zentrum für postmodernes
Lebensgefühl mit dementsprechenden Lebensformen - ist ihm
unmittelbar erfahrbar - und mittendrin die Kirchen mit ihrer
organisierten „Religionsfunktion"! Von einer hochglanzbro-
schürten Stadtsoziologie wird B. ebensowenig geblendet wie
von den neumodischen Fassaden, wenn er sich auf die Suche
nach der realen Existenz des Menschen macht. Und er verliert
dabei nie aus den Augen, daß eben diesem „realexistierenden
Menschen" die Verheißung gilt, „menschlich leben zu dürfen".
Es bleibt freilich nicht vermeidbar, daß bei der Füllung des
Postulats, „menschlich leben zu dürfen", sich die vornehmlich
bourgoisen Ideale einer Stadtkultur anbieten. Den Zuwachs an
neuzeitlicher Subjektivität nicht rückgängig zu machen, ja im
Gegenteil, solche Subjektivität durch eine ihr entsprechende
öffentliche Kultur voll abzusichern, wenn nicht überhaupt erst
zu dem zu machen, was subjektive Existenz meint, das ist B.s
normatives Konzept geblieben. Die Praxis der Dialektik zwischen
Privatheit und Öffentlichkeit richtet er so nach den Vorgaben
aus, die in den 60er Jahren entwickelt worden sind.

Habermas' Kritische Theorie und deren Fortentwicklung in
ein System von Kritik und Kommunikation steht auch für B.
Pate. Es ist daher folgerichtig, wenn noch und wieder im Jahre
1993 von B. die Thematik der Macht in die Praktische Theologie
zurückgeholt wird. Allerdings macht diese Einholung streckenweise
den Eindruck, als wäre sie nicht den Konflikten der 90er
Jahre angepaßt, sondern noch von jenen der 70er Jahre gezeichnet
. Die .spätbürgerliche Atmosphäre der Diskussion von damals
ist nach dem Ende des globalen Duals von Ost und West einer
völlig neuen bewußtseinsmäßigen, weil politischen Großwetterlage
gewichen. B. nimmt dies zwar dadurch wahr, daß er ökonomische
Macht und ökologische Krise zusammenbringt, seine
Rückbindung aber genau dieser Konstellation an die organisierte
Religion ist nicht befriedigend. Das kann sie wohl auch nicht
sein, da diese Konstellation bislang eher entkirchlichend gewirkt
hat, d. h. allenfalls ein kirchenfreies Christentum zu stärken vermochte
mit dessen indifferenten Sozialformen.

Wer ist das Subjekt, wie sieht die Organisationsgröße aus,
von denen in Zukunft das „soziale Schicksal" der Menschen
und damit auch deren individuelles Schicksal abhängen wird?

„Während jedoch in der alten Klassengesellschaft die Reichen ihre Individualität
pflegen konnten und die Armen ihre Arbeitskraft verkaufen mußten
, um leben zu können, sind in der Risikogesellschaft Arme und Reiche
gleichermaßen bedroht. Darin liegt die Chance, daß das Bewußtsein wächst,
wie stark die Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten von jedem einzelnen
Individuum abhängt und wie umgekehrt jeder und jede von uns Zeitgenossen
darauf angewiesen sind, daß die gesellschaftlichen Strukturen uns
ein freies und liebevolles, also ein menschliches Leben, das seinen Namen
verdient, erlauben. Privatheit und Öffentlichkeit sind dann auf eine gelungene
Weise miteinander zu vermitteln, wenn reife Personen in kommunikativen
Prozessen die gemeinsamen Angelegenheiten gestalten. Das ist gewiß
keine Beschreibung der Realität, sondern die regulative Idee einer kommunikativen
Ethik, die in politische Praxis umzusetzen wäre. - Religiöse Praxis
kann politische Praxis nicht ersetzen, aber sie kann zu ihrem Gelingen

einen Beitrag leisten. Voraussetzung dafür wäre, daß religiöse Erfahrung
weltoffen praktiziert wird."(344)

Der Aufriß des Buches entspricht diesem kritischen Theologieverständnis
: I: Sozialwissenschaftliche Zugänge, II: Theologische
Reflexionen. III: Perspektiven der Praxis - mit einem
Resultat IV, das bezeichnenderweise „Zwischenbilanz" genannt
wird. Dankbar wird der Leser für die Referate sein zu der
jeweils vorgestellten Literatur, wodurch ihm ein Überblick in
Kürze geboten wird. Beschwerlich ist allerdings der teils additive
Eindruck, der durch die reichlichen Zitate entsteht. Die ausgesprochen
systematische Anlage des Buches wird in ihrem
Profil dadurch etwas verwischt. Den substanziellen Beiträgen
zu einer „Verstädterung" aus den 60er und 70er Jahren korrelieren
in der jüngsten Zeit allenfalls Beiträge zur Praxis. Diese
Gegenwartspraxis erneut theologisch adäquat zu reflektieren:
dazu ermutigt das Buch und öffnet den Horizont in die Zukunft
hinein. Die „enzyklopädische" Bearbeitung unseres Themas
sprengt so ihren „eigenen Kreis".

Heidelberg Gerhard Rau

Fischer, Dietlind u. Albrecht Schöll: Lebenspraxis und Religion
. Fallanalysen zur subjektiven Religiosität von Jugendlichen
. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1994. 286 S. 8o.
Kart. DM 48,-. ISBN 3-579-01755-1.

Das biographische Interview hat Konjunktur. Es eröffnet,
anders als die quantifizierenden Methoden, unmittelbare Einblicke
in die Lebens-Wirklichkeit. Der vorliegende Band untersucht
die Religiosität Jugendlicher in der Spanne zwischen
Konfirmation und zweiter Lebensdekade, einer besonders sensiblen
und gleichwohl noch wenig erforschten Phase.

Methodisch folgt die Untersuchung der von U. Oevermann
entwickelten „objektiven Hermeneutik". Objektive Hermeneutik
heißt kontextfreie Interpretation der Protokolle. Dieses
strukturale Verfahren textimmanenter Interpretation vermeidet
verzerrende Deutungen, wenngleich die damit verbundene
Gefahr der „Sterilität" erkannt wird. Die Untersuchung grenzt
sich von der Methodik Fowlers und Osers ab, indem der hier
vorliegende soziologische Strukturbegriff, „der auf die Bildung
von Strukturtypen in einem sozialen Kontext ausgerichtel ist",
sich vom Strukturbegriff des genetischen Strukturalismus unterscheidet
. So soll ein neuer Diskurs zwischen Praktischer Theologie
und Religionssoziologie angeregt werden.

Angesichts der modernen Notwendigkeit des Individuums,
Lebenssinn selbst zu konstruieren, ist die unvermeidlich reflexive
Form religiösen Erlebens eigentlicher Untersuchungsgegenstand
. Die Leitfrage besteht darin, wie die Aneignung von Lebenssinn
auf dem Hintergrund des kirchlichen Angebots geschieht
.

Die Tatsache, daß Lebenskonzepte nicht mehr vererbt werden,
sondern jeweils neu erworben werden müssen, erweitert die
Handlungs- und Entscheidungsspielräume des Jugendlichen, bietet
zunehmende Freiheit und gleichzeitig erhöhten Entscheidungsdruck
. Die Klage über Traditionsabbruch und Wertediffusi-
on bei Jugendlichen wird als unberechtigt zurückgewiesen; sie
vermag die positiven neuen Ansätze nicht in den Blick zu bekommen
. Dagegen wird ein funktionaler Rcligionsbegriff vorausgesetzt
, der allein in der pluralistischen Gesellschaft Vergleichbarkeit
ermöglicht. Die Frage ist: „Welche Bedeutung mißt der jeweilige
Jugendliche Religion zu? Welche Funktion hat Religion
im jeweiligen lebenspraktischen Zusammenhang?" (15).

In einem ersten Abschnitt über Jugend und Religion werden
die empirischen kirchensoziologischen Studien der Vergangenheit
in ihren Ergebnissen verglichen. Interessant ist die Feststellung
, daß Kirchlichkeit in den alten Bundesländern eher mit