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Ausgabe:

1995

Spalte:

1111-1115

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Baur, Jörg

Titel/Untertitel:

Luther und seine klassischen Erben 1995

Rezensent:

Lüpke, Johannes

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 12

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beruht auf individueller Substanz) finden Eingang in die Theorie
der Person Edith Steins.

„Ewiges und endliches Sein" bringt dann jedoch auch eine
Dynamisierung (vgl. 167 ff.) des scholastischen Personbegriffs
durch die moderne Philosophie, indem das „reine Ich" als tragendes
Element eingeführt wird. Das statische „eidos" wird
aufgebrochen durch die Betrachtung der Wesensform als einer
sich von innen her entfaltenden (gegen Aristoteles, vgl. 164),
der Allgemeinheit der Wesensform, die sich in der Form/Substanz
-Lehre ergibt, wird die individuelle entgegengestellt. Die
Schlußfolgerung von Sch. in der Einleitung, „daß bestimmte
Engführungen, die der Begriff der Person innerhalb seiner ausschließlich
bewußtseinstheoretischen Bestimmung erfahren hat,
gerade durch eine Wiederaufnahme genuiner Einsichten klassischer
Seinsmetaphysik aufgehoben werden könnten" (15), ist
m.E. also dahingehend zu erweitern, daß auch die umgekehrte
Sichtweise gilt. Dieses zeigt sich besonders in den Ausführungen
zur „Kreuzeswissenschaft", in denen die Freiheit der Person
, die - sich vom tiefsten Punkt ihres Seins her ganz umfangend
- über sich verfügen kann, herausgestellt wird - eine
Betrachtung, die die Sichtweise der Scholastik weitet.

Die Individualität der Person ist das Hauptthema, das Sch. in
den Werken Steins aufzuzeigen versteht. Die Stringenz seiner
Gedankenführung und die immer wieder durchgehaltene Gliederung
(Einordnung des Werkes, Darlegung des Inhaltes mit
Querverweisen, Zusammenfassung, Kritik und weiterführende
Fragen) bringen Übersichtlichkeit in die komplexen Gedankengänge
, deren Lektüre durch die sehr differenzierte und variierte
, aber bisweilen im Gewirr der Differenzierungen und
Variationen zu abstrakt belastete Ausdrucksweise nicht gerade
erleichtert wird.

Sch. hat, obwohl ihm die beiden jetzt erschienenen genuin
anthropologischen Werke E. Steins: „Der Aufbau der menschlichen
Person"und „Was ist der Mensch?" noch nicht zur Verfügung
standen, mit der Untersuchung zum Begriff der Person bei
Edith Stein eine komplexe und komlizierte Thematik so bearbeitet
, daß ein facettenreiches und betrachtenswertes, der weiteren
Vollendung harrendes Bild vor dem geistigen Auge des
Lesers entsteht.

Paderborn Claudia Wulf

Systematische Theologie: Dogmatik

Baur, Jörg: Luther und seine klassischen Erben. Theologische
Aufsätze und Forschungen. Tübingen: Mohr 1993. 398
S. gr.8». DM 74,-. ISBN 3-16-146055-3.

Ob tragfähig oder brüchig, der Konsens, in dem sich das
Luthertum mit seinem geschichtlichen Ursprung in der Theologie
des Reformators verbunden weiß, bedarf immer wieder der
kritischen Prüfung und der erneuten Pflege des Erbes. Im Besitz
des Erbes zu sein, heißt ja noch lange nicht, die in ihm liegende
Bedeutung erkannt und als Herausforderung angenommen zu
haben. Wie in dem hier anzuzeigenden Buch nachzulesen ist,
trug sich schon Johann August Ernesti auf der Höhe der Aufklärung
mit Bedenken, ob es überhaupt ratsam sei, die unverkürzte
Abendmahlslehre den zeitgenössischen Lutheranern
zuzumuten, könnte doch gerade dort, wo man mit Luther übereinzustimmen
meint (cum Luthero in hac caussa sentire), heraustreten
, wie sehr man sich in Wahrheit von ihm entfernt hat
(118, Anm. 7). Heute wie damals gleicht das Erbe Luthers
einem anstößigen Stein, dessen Ärgernis man sich nur allzu oft

dadurch zu entledigen sucht, daß man ihn entweder abschleift,
um ihn in ,moderne' Mauerwerke einzufügen, oder aber verschämt
beiseite legt, um ihn aus dem Blickfeld des aufgeklärten
Bewußtseins verschwinden zu lassen. Differenzen und Widersprüche
werden so oder so bis zur Unkenntlichkeit abgeschwächt
. Sie in aller Deutlichkeit offenkundig werden zu lassen
, ist das Anliegen, das Jörg Baur in seinen unter dem Titel
„Luther und seine klassischen Erben" gesammelten theologischen
Aufsätzen und Forschungen leitet. „Die Vermittlung
unserer Gegenwart mit Luther" ist „ohne die Abarbeitung am
Widerspruch nicht zu haben" (30).

Um in der Weite und Fülle der Theologie Luthers eine klare
Orientierung zu gewinnen, bedarf es freilich einer hermeneuti-
schen Richtschnur, wie sie B. mit dem Begriff des Klassischen
beansprucht. Wo jedoch ist das Klassische in den Schriften des
Reformators zu finden? Und wer unter seinen Nachfahren hat es
in vorbildlicher Weise zur Geltung gebracht? Bei Luther ist es
vor allem ein Text, in dem B. gleichsam das reformatorische
Urgestein in aller Anstößigkeit gegeben sieht: De servo arbitrio.
Hier findet er den Grundsatz des „ad extrema eundum est" (WA
18, 755, 35 f.), von dem her Luthers Theologie insgesamt als
„Extreme Theologie" gezeichnet wird (3-12). Hier liegt die
Hauptquelle jener Zitate, die das Verhältnis Luthers zur Philosophie
(13-28), die „Aktualität" seines neuen theologischen
Ansatzes (29-45) sowie schließlich - einfließend in einen reichlich
sprudelnden Zitatenstrom aus dem Gesamtwerk Luthers -
sein Schriftverständnis zu interpretieren erlauben (46-113: Sola
Scriptura - historisches Erbe und bleibende Bedeutung, in einer
ersten Fassung vorgetragen auf dem Theologenkongreß in
Dresden 1990).

Luther wird so nicht nur „das erste Wort" zugestanden (3). Er
behauptet überdies aufweite Strecken eine Dominanz der Wort-
und Gedankenführung, die um so deutlicher und überzeugender
ausfällt, je weniger der Interpret ihm ins Wort fällt. Die Zutat
des systematischen Theologen und seine eigentliche interpreta-
torische Leistung zeigt sich weniger im Räsonieren über die
Texte als vielmehr in der Verknüpfung der Zitate sowie in der
Bereitstellung überaus weitgespannter Kontexte, in denen
Luthers Theologie ihren Wahrheitsanspruch selbst zur Geltung
zu bringen vermag. Dabei ist der Gefahr monologischer Selbstbehauptung
bereits im Ansatz dadurch gewehrt, daß Luther sich
in seinem Wort an das ursprüngliche Wort der Schrift gebunden
weiß. Als deren „Ausleger und Zeuge" ist Luther eben „nicht
der sie ablösende Erbhalter" (112).

Was am theologischen Erbe der Reformation klassisch genannt
zu werden verdient, entscheidet sich sodann (Teil II.) in
den theologischen Auseinandersetzungen, die der Bekenntnisbildung
des Luthertums vorausgegangen, in ihr bearbeitet und
durch sie wachgehalten worden sind. Die von B. der Systematischen
Theologie zur Pflicht gemachte „Abarbeitung am Historischen
" (207) leistet er selbst, indem er schwerpunktmäßig den
theologiegeschichtlichen Weg verfolgt, der maßgebend durch
Johannes Brenz bestimmt, in der Konkordienformel behauptet
(dazu: Abendmahlslehre und Christologie der Konkordienformel
als Bekenntnis zum menschlichen Gott, 117-144) und im
sogenannten Kenosis-Krypsis-Streit zwischen Tübingen und
Gießen gedanklich am weitesten vorangetrieben worden ist
(dazu die Studie: Auf dem Wege zur klassischen Tübinger
Christologie. Einführende Überlegungen zum sogenannten
Kenosis-Krypsis-Streit, 204-289).

Die schwäbische Färbung des Klassischen ist unverkennbar:
So wie B. bei den Tübinger Theologen Theodor Thumm und
Lucas II. Oslander „die konsequente Endgestalt der lutherischen
Christologie" ausmacht (185; vgl. 193), so ist das wesentliche
Anliegen dieser Theologie schon bei Johannes Brenz so
deutlich formuliert worden, daß am Ende dessen Sätze nur noch
zitiert zu werden brauchen (275 f.). Daß dieser Weg dezidiert