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Ausgabe:

1995

Spalte:

1095-1097

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Bubenheimer, Ulrich

Titel/Untertitel:

Thomas Müntzer 1995

Rezensent:

Bräuer, Siegfried

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1095

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 12

1096

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Bubenheimer, Ulrich: Thomas Müntzer. Herkunft und Bildung
. Leiden-New York-Kopenhagen-Köln: Brill 1989. XX,
359 S. gr.8° = Studies in Medieval and Reformation
Thought,46. Lw. hfl. 140.-.

Für den verspäteten Hinweis auf B.s Monographie ist der Rez.
verantwortlich. Die tiefgreifenden Veränderungen in Deutschland
, deren Beginn mit dem Erscheinungsjahr zusammenfiel,
ließen die Arbeit an der Müntzerthematik nicht unberührt. B.s
Buch läßt davon noch nichts erkennen, aber die im Vorwort
aufgeführten Kontakte zur Müntzerforschung in der DDR machen
den Abstand deutlich, der inzwischen zu registrieren ist.

B.s Zusammenfassung seiner sechsjährigen Recherchen, methodischen
Ansätze und Quellenerschließungen zu Müntzers
Frühzeit behalten ihr Gewicht. Der Rez. hält deshalb auch eine
späte Anzeige für vertretbar. Sie kann sich im wesentlichen darauf
beschränken, den erreichten Forschungsstand zu benennen
und auf Grenzen, Ergänzungen und Korrekturen aufmerksam
zu machen.

Große Teile der Monographie hatte B. von 1984 an in Aufsatz-
form publiziert. Keine dieser Vorveröffentlichungen ist unverändert
in den Band eingegangen. Deutlicher als in der Erstfassung
ist der Hypothesencharakter mancher seiner Folgerungen aus der
Erschließung neuer Quellen gekennzeichnet. Sie sind insgesamt
zurückhaltender ausgefallen (vgl. z.B. 46 Anm. 19 zur 1984 stark
in Frage gestellten Identität des Leipziger Studenten Müntzer
von 1506/07).

Verdienstvoll ist B.s Kombination von sozial- und geistesgeschichtlichen
Zugängen zu Müntzers Frühbiographie, durch die
vor allem die Stoiberger Herkunft und das Wirken in Braunschweig
in neuem Licht erscheinen. Gerade das Kap. über die
Herkunft, in dem B. zu Recht auf das gleiche sozio-geographi-
sche Umfeld von Luther und Müntzer aufmerksam macht, zeigt
aber auch den Anfangscharakter seiner Hinweise für die gräfliche
Residenzstadt und den Montanstandort Stolberg. B. wertet
wie kein anderer vor ihm minutiös die zerstreut veröffentlichten
Quellen aus. Das reichlich vorhandene Archivmaterial in Stolberg
und Wernigerode stand ihm nicht zur Verfügung. Aus ihm
lassen sich jedoch seine Ausführungen zu den Stoiberger Verhältnissen
, zu Müntzers Herkunftsmilieu, zu den Namensträgern
Müntzer sowie zu wichtigen verwandtschaftlichen und
beruflichen Kontaktpersonen erheblich erweitern oder präzisieren
. (Die Veröffentlichung der vom Rez. vorgenommenen Aufarbeitung
des Materials steht noch aus. Ein Aufsatz auf Grund
von neuen Quellen über Christoph Meinhard wird 1995/96 in
der Festschrift für Günter Mühlpfordt/Halle erscheinen.) Die
kritische Sicht der Familienforschung Hermann Goebkes kann
bestätigt werden. Die zahlreichen Namensträger in Stolberg lassen
sich nicht in ein quellengegründetes genealogisches Schema
einordnen. Nachgewiesen werden kann, daß Matthis Müntzer
als gräflicher Hüttenmeister tätig war und 1500/01 starb. Hans
Goldschmidt, der zu ihm in enger Beziehung stand, war tatsächlich
Goldschmied und gräflicher Probierer (vgl. B. 25 f. und
30). Zu korrigieren ist B.s Verbesserung des Lesefehlers
inMSB, 536 Anm. 1 (Theodoricus Gaff statt Puff): Theodoricus
Griff (Greif). Er ist noch 1529 als Erfurter Notar nachweisbar.

Im 2. Kap. verdient B.s Hypothese von Müntzers Schulbesuch
in Quedlinburg und die Überlegungen zu möglichen Kontaktpersonen
während des Leipziger bzw. Frankfurter Studiums
Beachtung. Zum pädagogischen Zwischenspiel in Aschersleben
und zur Tätigkeit in Frose (Kap. 3) ist ergänzend auf die Arbeit
von Manfred Kobuch (ZfG 38, 1990, 312-334) hinzuweisen.
Dort ist auch der paläographische Nachweis für „Präfekt" als

Dienstbezeichnung Müntzers (statt B.s Lesart „presten") zu finden
. Die von B. für möglich gehaltene Verwandtschaft des
Leipziger Dominikaners mit der Gernröder Äbtissin Elisabeth
von Weida ist gegenstandslos. Der Dominikaner stammte aus
Weida (91). Mit seinen Untersuchungen zu Müntzers Tätigkeit
in den Jahren 1515/16 (Braunschweig/Frose) hat B. die Forschung
zu Müntzers Frühzeit auf eine neue wissenschaftliche
Grundlage gestellt. Seine Ergebnisse sind inzwischen vielfach
rezipiert worden. Das gilt noch nicht für die wichtige Selbstkorrektur
zu 1983/84, daß „vadder" (nddt.) mit Gevatter und nicht
mit „Vater" zu übersetzen ist. Für einen angeblichen Aufenthalt
von Müntzers Vater in Braunschweig gibt es demnach keinen
Beleg (126). Spekulative Elemente sind auch in der jetzigen
Fassung des Kap. noch vorhanden, spielen aber nicht mehr eine
so große Rolle wie 1983/84. Ist es beispielsweise berechtigt,
angesichts der schmalen Quellenbasis von einem „vorreforma-
torischen Humanistenkreis" in Braunschweig zu reden (108 und
110)? Vgl. zur Ergänzung inzwischen den Aufsatz des Rez.
über den Beginn der Reformation in Braunschweig im Braunschweigischen
Jb. 75 (1994), 85-116.

Eine Fülle neuer Einsichten bietet das 4. Kap. (Wittenberg,
Orlamünde und Jüterbog), wobei der hypothetische Anteil erheblich
höher ist als in den vorangehenden Kap. B. hat mit bewundernswertem
Scharfsinn neue Quellen erschlossen, durch die
sich u.a. die Teilnahme Müntzers an der Wittenberger Hieronymusvorlesung
des Johannes Rhagius Aesticampianus im Wintersemester
1517/18 wahrscheinlich machen läßt. B. geht davon
aus, daß sich Müntzers Wittenbergaufenthalt auf längere Zeit erstreckt
hat, die allerdings durch Reisen nach Franken, Leipzig
und Orlamünde unterbrochen wurde. Vorläufig ruhen B.s Darlegungen
auf einer schmalen Quellenbasis. Sein methodischer
Ansatz und seine aufmerksame Auswertung bekannter, aber bislang
unterschätzter Überlieferung macht den wenig befriedigenden
Stand der Erforschung des Spektrums der Wittenberger Universitätslehre
in der frühreformatorischen Zeit bewußt.

Nach den mehr formalen Hinweisen von Max Steinmetz und
nach Wolfgang Ulimanns anregenden Überlegungen hat sich B.
im 5. Kap. auch dem Thema „Müntzer und der Humanismus"
zugewandt. Wie Luther hat auch Müntzer die antike Rhetorik
rezipiert. Sie war für ihn aber nicht nur exegetisches Hilfsmittel,
um den Schriftsinn zu ergründen. Sein Gebrauch der Rhetorik
zielte auf eine Hermeneutik des Offenbarungsprozesses. Er
machte „rhetorische Grundkategorien zu systematischen Strukturelementen
seiner Theologie", vor allem die Kategorie „ordo"
(216). Bewußt vereinfachend, bringt B. sein Ergebnis auf die einprägsame
Formel: „Luther interessiert sich in einem exegetisch-
hermeneutischen Sinn vorwiegend für den ordo verum der von
ihm ausgelegten Texte. Müntzer geht es in einem systematisch-
hermeneutischen Sinn um den ordo rerum" (215). Deutlicher als
früher räumt B. ein, daß die von ihm vorgelegte Lösung des theologischen
Gegensatzes von Luther und Müntzer weiterer Forschung
bedarf. Teilweise ergänzt hat Müntzers Rezeption des
ordo-Begriffes inzwischen B.s Schüler Dieter Fauth in seiner
Dissertation „Müntzer in bildungsgeschichtlicher Sicht" (Köln/
Wien 1993). Für B. steht fest, daß Müntzer kaum „Schüler Luthers
" war. Sein Vorschlag lautet: „Man sollte Müntzer eher als
einen Schüler Wittenbergs bezeichnen" (235).

Nach einer Zusammenfassung seiner Ergebnisse markiert B.
eine Reihe von Aufgaben, die sich künftiger Forschung gerade
auf Grund seiner vielen neuen Einsichten ergeben und fügt in
einem 2. Teil eine Quellenedition an: Zuerst neun Stücke aus
Müntzers Briefwechsel in einem neuen kritischen Abdruck aus
der Zeit bis 1521, mit dem er die bisherige Ausgabe von Franz/
Kirn weit hinter sich läßt. Allerdings konnte er als Vorlage nur
die Lichtdruckausgabe von 1953 benutzen. Wie sich bei der
Anrede als Präfekt in Frose gezeigt hat, ist mit weiteren Korrekturen
zu rechnen. Solange jedoch die neue kritische Bearbei-