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Ausgabe:

1995

Spalte:

1059-1062

Kategorie:

Allgemeines

Titel/Untertitel:

Kirche als Kulturfaktor 1995

Rezensent:

Rogge, Joachim

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1059

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 12

1000

sehen Rassenpolitik aktiv widersetzten, das Schweigen praktisch
aller Richtungen der evangelischen Kirche steht. Daß
dafür nicht vorschnell theologische Erklärungen herangezogen
werden dürfen, sondern daß politische Mentalitäten und gesellschaftliche
Prägungen eine ebensogroße Rolle spielen, macht
der Autor durch einen Vergleich mit dem Katholizismus und
der Situation in Frankreich deutlich.

Wegweisend sind G.s Überlegungen zur Frage von Restauration
oder Neuanfang in der evangelischen Kirche nach 1945.
Dem Autor gelingt es, stichhaltig nachzuweisen, daß es sich bei
dem Restaurationsvorwurf vornehmlich um „eine polemische
Formulierung zur Durchsetzung des eigenen Anliegens - und
zur Disqualifizierung der Position des Gegners" (157) handelt,
daß sich der Begriff ,Restauration' also nicht als Kriterium zur
Unterscheidung von Kontinuität oder Diskontinuität eignet. Der
anschließende Artikel richtet den Blick auf die weitere Entwicklung
der großen Kirchen bis 1989. Sie waren in beiden
deutschen Staaten erheblichen Veränderungen unterworfen, die
trotz signifikanter Unterschiede auch zahlreiche Parallelen aufweisen
. Am Ende stand im Protestantismus Ost- wie Westdeutschlands
eine kritische Solidarität mit dem Staat.

Im vorletzten Beitrag beschäftigt sich G. mit den Zielsetzungen
der Ostblock-Regierungen bei ihrer versuchten Einflußnahme
auf die Ökumene. Dabei werden die verfolgten Ziele ebenso
deutlich wie die Grenzen der Beeinflussungsmöglichkeiten, so
daß in der historischen Beurteilung die aus christlicher Solidarität
und ökumenischem Anliegen motivierten Kontakte über
die Blockgrenzen hinweg als sinnvoll und erfolgreich bewertet
werden können.

Der letzte Beitrag fällt etwas aus dem Rahmen der übrigen
heraus. Es handelt sich um G.s Kommentar zum .Historikerstreit
', in dem vielleicht am stärksten der Theologe Martin Gre-
schat hervortritt. Er kritisiert die mangelnde Beschäftigung aller
Kontrahenten mit dem Thema .Schuld'. „Wer um seine Schuld
und seine Schuldverflochtenheit an den Mitlebenden weiß,
weiß auch um jene vielfältige Schuldverflochtenheit in das, was
seine Väter und Großväter taten oder geschehen ließen" (225).
lautet der Kernsatz von G.s Stellungnahme. Nur durch die
bewußte Annahme von Schuld, durch eigene Entscheidung
also, kann nach G. eine Haltung erreicht werden, die die richtigen
Konsequenzen aus der unseligen Vergangenheit auch tatsächlich
zieht.

Ergänzt wird das Buch durch die umfangreiche Personalbibliographie
des Jubilars sowie durch ein Personenregister. Leider
- so muß kritisch angemerkt werden - wird der Sammelband
mit seinen wertvollen Beiträgen bei einem Ladenpreis von
89,- DM wohl kaum weitere Verbreitung finden; Studenten und
interessierte Laien werden vermutlich vielfach vor einer solchen
Ausgabe zurückschrecken.

Tübingen Thomas Sauer

|Hempel, Johannes:] Kirche als Kulturfaktor. Festgabe der
Theologischen Fakultät der Universität Leipzig zum 65.
Geburtstag von Landesbischof Dr. Dr. h.c. Johannes Hempel,
D.D. Hrsg. von U. Kühn. Hannover: Luth. Verlagshaus 1994.
283 S. 80 = Zur Sache, 34. Kart. DM 24,80. ISBN 3-7859-
0691-9.

Wie rezensiert man eine „Festgabe" angemessen? Soll dabei der
Geehrte im Vordergrund stehen, soll jeder einzelne Beitrag - in
diesem Fall handelt es sich um 16 Autoren mit 15 unabhängig
voneinander verfaßten Beiträgen - gewürdigt werden, soll das
gewählte Gesamtthema „Kirche als Kulturfaktor" für seine Relevanz
heute evaluiert werden? Für den vorliegenden Band
wäre durchaus auch positiv zu entscheiden, daß man der hinter

der Publikation stehenden Institution, der Theologischen Fakultät
in Leipzig, für diese Initiative einen besonderen Dank aussprechen
sollte.

Der Rez. entscheidet sich für einen Weg in der Mitte. Alle
oben genannten Gesichtspunkte haben ihre Bedeutung. Johannes
Hempel, langjähriger Landesbischof der sächsischen Landeskirche
, Ehrendoktor eben der Fakultät, die ihn jetzt erneut
auszeichnet, früher auch einer der Präsidenten des Ökumenischen
Rates der Kirchen und auch jetzt noch Ratsmitglied der
Evangelischen Kirche in Deutschland - damit sind seine früheren
und jetzigen Funktionen keineswegs alle aufgezählt - hatte
und hat das Generalthema „Kirche als Kulturfaktor" stets im
Blick. Viele seiner Aktivitäten zeugen davon. Die „steinige und
kurvenreiche Spezialstrecke der Gratwanderung der Kirche" (7)
hatte Hempel ja nicht nur „durchzustehen", sondern auch mit-
zugestalten, einen - wie er selbst sagt - Weg zwischen „Anpassung
und Widerstand" (a.a.O.). So sind Thema des Buches und
Thematisierung des Lebenswerkes von Johannes Hempel ineinander
verwoben, und schon dieses macht die Festgabe der Fakultät
, der er sich in vieler Hinsicht auch durch persönliche Nähe
verbunden weiß, interessant.

Eine summierende Bewertung des in mancher Hinsicht auch
unkonventionell anregenden Buches kann nicht gelingen. Dazu
sind die einzelnen Beiträge zu verschieden. Der Hg. hat denn
auch darauf verzichtet, thematische Zentrierungen oder Gruppierungen
vorzunehmen. So steht Herders Psalmenverständnis-
Einschätzung (Dietmar Mathias) vor einer Charakteristik des
Frankreichbildes in der evangelischen Presse Sachsens zur Zeit
der Entstehung des Deutschen Kaiserreiches 1871 bis 1915
(Günther Wartenberg). Eine Bündelung seitens des Rez. wäre
nicht weniger willkürlich.

So langweilig Aufzählungen sein können, in diesem Falle ist
eine Aneinanderreihung der Beiträge aufschlußreich und wertvoll
, zumal dadurch mindestens dreierlei deutlich wird:

1. Was halten die Mitglieder des Lehrkörpers der Fakultät in
Kirche und Theologie heute für relevant?

2. Welche Themen und wissenschaftlichen Ergebnisse hielt
man im Blick auf den laudandus für geeignet?

3. Wie stellen die Autoren es sich vor, „den Binnenraum der
Kirche überschreiten" zu können (Christoph Kähler und Ulrich
Kühn) (8), damit „solcher Dienst... ein Faktor der allgemeinen
Kultur sein" kann?

Die Beiträge „signalisieren... ein Stück des Aufbruchs von
Kirche und Theologie in einen seit der Wende neu eröffneten,
oft sehr unübersichtlichen Bereich. Daß dazu auch die Rückbesinnung
auf frühere Stadien kultureller Aspekte kirchlicher Existenz
gehört, versteht sich von selbst" (a.a.O.).

In den obigen Zitationen hat der Leser einen Schlüssel für
den Gesamtduktus und den beherrschenden Rahmen der Festgabe
. Die ,Kirche des Wortes' in die jetzt lebende Gesellschalt
einwirken zu lassen, daran ist den Autoren gelegen, und darin
stimmen sie mit dem Geehrten überein. Sicherlich wird man
von dieser Sicht her die Bemerkung auf dem rückwärtigen
Deckblatt des Bandes erweitern müssen, hier seien „Beiträge
einer Thematik zusammengestellt, die für den Weg der Kirche
in Ostdeutschland von zunehmender Bedeutung wird". Vieles
von dem, was hier ausgeführt worden ist, sollte allen Kirchen
gelten, in welchem gesellschaftlichen System auch immer.

Es fällt etwas schwer, der allgemeinen Akzentsetzung noch
weiteres mit dem Anspruch der Dominanz in den Beiträgen hinzuzufügen
. Johannes Hempel selbst hat 1993 (s.o.) - sicher
nicht als erster - von „der Gratwanderung der Kirche" gesprochen
, und dieses ist ohne Risiken, ohne Fehleinschätzungen,
ohne Beschreiten und Wieder-Verlassen neuer Wege ja wohl
nicht möglich. Ein hervorragendes Beispiel dafür sind die Versuche
und schon getätigten Praktiken bei der Einführung des
Religionsunterrichtes, auch unter Mitreflexion eines neuen Ver-