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Ausgabe:

1995

Spalte:

1057-1059

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Greschat, Martin

Titel/Untertitel:

Protestanten in der Zeit 1995

Rezensent:

Sauer, Thomas

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1057

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 12

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In all den nichtgeordneten, zum Teil sehr weit ausgeführten
notae-Notierungen erscheint unausgesetzt die Wortbezogenheit,
so daß die numerische Diffusion die Klarheit der Definition
letztlich nicht stört.

4. Die Korrelation zwischen Kennzeichen der Kirche und
Volk Gottes

Eine Stereotype ist nun allerdings doch auffällig und vom Autor
gewiß unausgesetzt beabsichtigt. „Christlich heilig Volck" und
-das heilige Gotteswort" gehören zusammen. Vor jeder Kennzeichenangabe
für die Kirche erscheint mit nur geringen, substantiell
unwesentlichen Varianten der Begriff des Gottesvolkes
.37 Kirche ist Volk Gottes, Schar derer, die sich um Gottes
Wort sammeln, Scharung um die Bibel (Rudolf Hermann).
Der Papst und die Bischöfe, die mit ihren Ansprüchen kein
Volk sind, können weder bleiben noch herrschen. Von Luthers
zunächst so diffus erscheinender, aber letztlich doch völlig klar
zentrierter Sicht des Kirchenbegriffs ist jede Willkür im Leben
der Kirche ebenso ausgeschlossen wie eine dauernde Strukturreflexion
geboten, um dem Wort Gottes im Volk Gottes seinen

Lauf zu ermöglichen. Das hält die Kirche zwar in dauernder
Spannung hinsichtlich ihrer äußerlich sichtbaren Gestalt,
schenkt ihr jedoch gleichzeitig bleibenden Trost im Vertrauen
auf den Herrn, der sein Volk nicht allein läßt.

Ernst Wolf faßt zusammen, was als Resultante aus Luthers
Spätschriften zum Kirchenverständnis für das Volk Gottes heute
begriffen werden könnte: „Die Kirche wandert auf Erden
einem Ziel zu, das der Grund ihres Daseins ist, das ihr bereitet
ist, das sie nicht zu gestalten hat oder vorzubereiten durch
Gewinnung einer eigenen Gestalt; sie bleibt in der Vorläufigkeit
, im Pilgerstand, in der Fremdheit, auch der Gestaltfremd-
heit gegenüber der Welt, von deren Verfolgungen zuletzt nicht
überwindbar, weil von den Tröstungen Gottes hindurchgetragen
..."38.

36 A.a.O., 481, 7 f.

37 StA 5: 590, 17 f.; 592, 12; 593, 4; 594, 1; 595, 3; 604. 13; 604. 28.

38 E. Wolf, Peregrinatio II, München 1965, 160.

Allgemeines, Festschriften

Greschat, Martin: Protestanten in der Zeit. Kirche und Gesellschaft
in Deutschland vom Kaiserreich bis zur Gegenwart
. Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1994. XV, 243 S.
gr.8o. Kart. DM 89,-. ISBN 3-17-013182-6.

Zum 60. Geburtstag des Marburger Kirchenhistorikers Martin
Greschat hat dessen Schüler und Freund Jochen-Christoph Kaiser
eine Auswahl der wichtigsten Aufsätze des Jubilars zur kirchlichen
Zeitgeschichte herausgegeben. Der Band umfaßt zehn
zwischen 1984 und 1992 bereits publizierte sowie zwei bisher
unveröffentlichte Beiträge, die Themen vom ausgehenden 19. Jh.
bis zur Nachkriegszeit behandeln. In seinem Vorwort weist der
Hrsg. auf eines der zentralen Anliegen G.s hin: Kirchliche Zeitgeschichte
dürfe nicht nur als reine Institutions- oder Theologiegeschichte
verstanden werden, sondern sei als Teil der modernen
Sozial- und Gesellschaftsgeschichte zu betrachten. Ohne die
Theologie preiszugeben gehe es vornehmlich darum, „die Einbindung
des individuellen Glaubens und seiner sozialen Wirklichkeit
sowie die Einordnung der Kirchen samt ihrer Organisationen
und Gliederungen in die sie umgebende gesellschaftliche
Realität offenzulegen", formulierte G. seine Gedanken über Ansatz
und Fragestellung von Kirchengeschichtsschreibung 1993 in
der .Historischen Zeitschrift' (Die Bedeutung der Sozialge-
SChichte für die Kirchengeschichte. Theoretische und praktische
Erwägungen, in: HZ 256, 1993, 67-103).

Daß so verstandene Kirchengeschichte neue, differenziertere
Einsichten in historische Gegebenheiten und Prozesse eröffnet,
/eigen G.s hier veröffentlichte Beiträge.

Die ersten drei Aufsätze beschäftigen sich mit Erscheinungen
, die nur vor dem Hintergrund der rasanten Modernisierung
in der zweiten Hälfte des 19. J.s angemessen zu beurteilen sind.
So können neuentstandene Formen pietistischer Frömmigkeit
als Reaktion auf Industrialisierung und Verstädterung erklärt
werden. G. zeigt auf, wie sich Alltagserfahrungen aus dem
Arbeitsleben von Bergarbeitern des Ruhrgebiets in den Strukturen
ihrer religiösen Gemeinschalten widerspiegeln. Anschliessend
behandelt er die Berliner Stadtmission, die für gut ein
Jahrzehnt die evangelische Sozialarbeit in der Großstadt dominierte
, dann aber aufgrund theologischer, sozialer und politischer
Veränderungen wieder ihre herausragende Rolle verlor.

In seinem dritten Aufsatz geht G. der Verhältnisbestimmung
von evangelischer Religiosität und Kultur im 19. Jh. nach. Ausgehend
von Friedrich Schleiermacher verfolgt er die theologischen
und philosophischen Antworten auf sich verändernde
Zeit- und Lebensumstände über Albrecht Ritsehl bis hin zu
Martin Rade und Friedrich Naumann.

Im Bereich der politischen Kultur sind die beiden nächsten
Themen angesiedelt. Zunächst untersucht G. die Frage nach der
Sicht und Beurteilung des Krieges im deutschen Protestantismus
des Kaiserreichs. Kritisch erläutert er dabei, wie sich durch
das Eindringen nationalistischen und sozialdarwinistischen
Gedankenguts die Deutung des Krieges vom zwar unvermeidlichen
, aber zur Buße mahnenden Bestandteil der internationalen
Politik zum gottgewollten Missions- und Kulturfeldzug
Deutschlands gegen seine Feinde veränderte. Nach 1914 ist diese
Anschauung dann - wie der Autor ohne zu pauschalisieren
zeigen kann - praktisch in allen theologischen und kirchenpolitischen
Richtungen zu finden. Der folgende Aufsatz verfolgt
differenziert die Nachwirkungen des Stoeckerschen Antisemitismus
bis in die Weimarer Republik. G. legt überzeugend dar,
daß trotz des vielfach bestimmenden Einflusses von Stoecker
bei weitem nicht alle antisemitischen Strömungen bei konservativen
kirchlichen Gruppen auf den Berliner Hofprediger zurückgeführt
werden können.

Drei Beiträge beschäftigen sich mit der Geschichte des Kirchenkampfes
. Zunächst geht es um eines seiner zentralen Ereignisse
, die Barmer Bekenntnissynode. Bedingt durch die überwiegend
ungebrochene national-konservative Gesinnung der
Barmer Synodalen war mit ihren bahnbrechenden theologischen
Beschlüssen keine politische Oppositionshaltung verbunden
. Die Affinität des hier vertretenen Protestantismus zu nationalen
Werten und autoritären Staatsvorstellungen verhinderte -
so die These G.s - die Erkenntnis der politischen Ziele der
Nationalsozialisten. Im anschließenden Artikel analysiert Greschat
verschiedene Entwürfe zu einem „Pfingstwort der Bekennenden
Kirche" und zeigt daran die durch die traditionelle Verhältnisbestimmung
von Staat und Kirche markierten Grenzen
kirchlicher Stellungnahmen auf. Selbst der entschiedenste Teil
der Bekennenden Kirche war 1936 nicht in der Lage, über den
eigenen Umkreis hinauszuwirken und weiteren Kreisen Ermutigung
und Stärkung zuzurufen. Beklemmend werden die Grenzen
protestantischen Widerspruchs gegen das NS-Regime im
folgenden Beitrag deutlich, der aufweist, daß neben dem Beispiel
mutiger Einzelpersonen, die sich der nationalsozialisti-