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Ausgabe:

1995

Spalte:

1051-10

Autor/Hrsg.:

Rogge, Joachim

Titel/Untertitel:

58 Luthers Kirchenverständnis in seinen Spätschriften 1995

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1051

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 12

1052

Joachim Rogge
Luthers Kirchenverständnis in seinen Spätschriften

Siegfried &räuer ^tm^65.4^burtsiag am 2. September 4995—

1. Zum kontemporären Belang einer historisch immer aktuell
gewesenen Frage

Ein Bemühen um Lutherforschung wird ganz gewiß nicht
dadurch erst wertvoll, daß der Gegenwartsbezug des Erforschten
erhoben wird bzw. nachgewiesen werden kann. Luther hat
theologisch und allgemein-ethisch Menschheitsfragen angesprochen
und auf seine Weise für seine Zeit gelöst. Er hat uns in
vieler Hinsicht Methoden der Bibelbetrachtung gelehrt und
damit der Lebensauffassung, ohne daß dadurch statische Festlegungen
von Lehre jede Zukunft der Kirche im vornherein zur
terminologischen Bewegungslosigkeit bringen müßten.

Luthers Satz in seinem Sendbrief vom Dolmetschen aus dem
Jahre 1530, man müßte dem „gemeinen ma(n) auff das maul
sehen"1, gehört nicht nur zum allgemein verständlichen Wortschatz
, sondern reißt ja wohl auch jede nachgeborene Theologengeneration
, also auch uns, nach vorn, hin zu der Notwendigkeit
, Lehraussagen der Vergangenheit zu prüfen und zumindest
ihren Verständlichkeitsrahmen im Blick auf kontemporäre Ver-
stehbarkeit neu zu bestimmen. Diese etwas allgemein gehaltene
Einleitung möchte weiter nichts, als die Theologenzunft zu
ermutigen, ja aufzurufen, die unerläßliche Mühe einer Bibel-,
Dogmen- und Bekenntnishermeneutik aufzuwenden, damit
Verkündigung die Menschen erreicht.

Die hier erbetenen Definitions- und Umschreibungsversuche
beziehen sich auch und wesentlich auf das von Luther so
bezeichnete „blinde(n) vndeudliche(m) wort (kirche)"2, das bis
heute in einer Bedeutungsskala sondergleichen besonderen,
vielschichtigen Verständnissen und Mißverständnissen unterliegt
. Uns geht es dabei nicht zuerst um eine Ekklesiologie im
Lehr-Sinn des Wortes, sondern um ein Kirchenverständnis,
welches late dictum oder auch stricte dictum die Sache, die
damit verbunden ist, bis zur Unkenntlichkeit verstellen kann.
Das altkirchliche Dictum, daß dort, wo der Bischof ist. die Kirche
sei, hebt sich befremdlich ab von der Aussage des Mitgliedes
eines Gemeindekirchenrates, wohl für die Gemeinde sich
einsetzen zu wollen, aber an der Kirche, die es nicht erlebe, an
und für sich kein Interesse zu haben.

Dabei hat der Bischof, dessen Bekanntheitsgrad um die Mitte
unseres Jahrhunderts nicht erst erwiesen werden muß, Otto
Dibelius, schon in der Mitte der Zwanziger Jahre ein in vielen
Auflagen verbreitetes Buch geschrieben, das vom „Jahrhundert
der Kirche" redet.3 Es hat nicht viel geholfen, das generelle
ekklesiologische Defizit in den reformatorischen Landeskirchen
Deutschlands ist geblieben. Recht häufig und fast neidisch muß
einfach zur Kenntnis genommen werden, daß katholische Christen
in öffentlicher und nichtöffentlicher Rede sich als das
bezeichnen, was sie sind. Das hat bei evangelischen Christen
nur selten eine Entsprechung. Der gesamtkirchliche Sinn ist
unter evangelischen Christen ohnehin zumeist schwach ausgeprägt
, die Füllung oder Realisierung des Sonntagsbekenntnisses
in bezug auf den Dritten Artikel „Ich glaube an... die heilige
christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen" hat im faktischen
Lebensvollzug vieler evangelischer Christen kaum ein
Gewicht.

1 Martin Luther. Studienausgabe, hrsg. von H.-U. Delius, Bd. 3, Berlin
1983,486, 31 f.

2 Von den Konziliis und Kirchen, 1539. StA, Bd. 5, Berlin 1992, 586, 3. -
S. auch in Wider Hans Worst, 1541, WA 51, 545, 5.

3 1926, 19286.

Im Sinne des Reformators ist das oben Ausgeführte gewiß
nicht. Er hat sein ganzes Leben lang um das rechte Verständnis
von Kirche gerungen, und das zweifellos nicht aus dem Beweggrund
einer neuen Theoriebildung. Kirche war ihm Gottesdienstgemeinde
in einer rechten Gottesdienstordnung, aber
dafür meinte er, die Leute noch nicht zu haben: „... wenn man
die leute und personen hätte / die mit ernst Christen zu seyn
begerten / die ordnunge vnd weysen weren balde gemacht. Aber
ich kan und mag noch nicht eyne solche gemeyne odder ver-
sammlunge orden odder anrichten / Denn ich habe noch nicht
leute vnd personen dazu / so sehe ich auch nicht viel / die da/u
dringen."4 Zinzendorf meinte dann wohl, die Leute dazu zu
haben.

Die Konzentration auf den Gottesdienst als den Ort des
Hörens auf Gottes Wort hält Luther zur Umschreibung dessen,
was Kirche ist, unentwegt durch, am einfachsten und überzeugendsten
ausgedrückt in seinem Bekenntnis von 1537. den
Schmalkaldischen Artikeln, mehr als 10 Jahre später als die

Vorrede zur Deutschen Messe verfaßt: ..... es weyß Gott Lob

eyn kind von VII Jaren was die kirche sey. Neinlich die hey-
lig(en) gleubigen vnd die schefflin / die yhres hirten stymme
ho(e)ren.

Die so vermittelte reformatorische Auskunft hat ihre Aktualität
bis heute nicht verloren. Angesichts der vielen Irritationen,
der vielen Kirchenaustritte, der unklaren oder gar nicht erfolgenden
Orientierungen in Predigt und Unterricht ist es nicht nur
ein historisch interessantes Desiderat, sondern ein lebendiges
kirchliches Erfordernis, noch einmal nachzufragen, was Luther
damals wie wohl auch heute festzuschreiben dem Volke Gottes
anbietet. Dieser letztere Begriff gehört bekanntlich ins Zentrum
von Luthers Spätaussagen zur Ekklesiologie.

2. Die Akzente der Forschung zu Luthers Ekklesiologie

Akzentbeschreibungen für Lutherforschung sub voce „Kirchenbegriff
' können in diesem Zusammenhang keinesfalls auch nur
annähernd bibliographische und sachliche Vollständigkeit erreichen
. Es werden, sicherlich sehr erweiterungsbedürftig, nur Stationen
aufgezeigt.

2.1. Karl Holl

Einer der Klassiker der Lutherforschung in diesem Jahrhundert,
Karl Holl, hat in seinen Gesammelten Aufsätzen zur Kirchengeschichte
, speziell in dem Luther gewidmeten Band, einen Beitrag
, der schon aus dem Jahre 1915 stammt, veröffentlicht, der
„Die Entstehung von Luthers Kirchenbegriff"6 zum Inhalt hat.
Er führt Luthers Denken in dieser Sache zwar nur bis in den
Anfang der Zwanziger Jahre, meint aber, in diesen fortschritts-
intensiven Perioden von den exegetischen Neuentdeekungen bis
zu den praktischen Vorschlägen zur Kirchenerneuerung eine
„großartige Folgerichtigkeit in Luthers Entwicklung (in bezug
auf den Kirchenbegriff)" feststellen, ja „bewundern" zu müssen
.7

Holls Summa in der Sache ist: „Luther bezeugt... nicht nur
seine treue Anhänglichkeit an den Einheitsgedanken der Kir-

4 Deutsche Messe. Vorrede, 1526. Luthers Werke in Auswahl, hrsg. von
O. Clemen. 3. Bd., Berlin 1950, 297, 11-16.

5 StA, 436, 4-6.

6 Karl Holl: Gesammelte Aufsatze zur Kirchengeschichte I. Luther.
Tübingen 19487. 288-325.

7 A.a.O., 325.