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Ausgabe:

1995

Spalte:

1046-1047

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Plieth, Martina

Titel/Untertitel:

Die Seele wahrnehmen 1995

Rezensent:

Hauschildt, Eberhard

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1045

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. II

1046

Lebens und der Ehe... Wird die Ehe als gemeinsame Berufung
verstanden, versucht man nicht, ein Ideal zu leben, sondern in der
wirkliehen Welt eine intime Beziehung zu gestalten" (101).

Das umfangreichste Kapitel setzt sich mit dem Leben in der
..Kernfamilie" auseinander. Mit Hilfe von zwölf Kategorien aus
den Bereichen der Theologie und der psychosozialen Wissenschaften
versuchen P./Ch., die Spannungen und Kräfte darzustellen
, die eine Familie prägen und bewegen. Begriffe wie Autorität
und Bund. Gemeinschaft und Beruftung). Abhängigkeit und In-
dividuation oder Homöostase und Heterostase werden als sich
ergänzende und widerstreitende Kräfte neben- und gegeneinan-
dergestellt. Das Ziel dieser Ausführungen ist, daß der Seelsorger
/die Seelsorgerin ein Gespür für die Dynamik innerhalb „gesunder
" und problembelasteter Familien bekommt.

Als größte Bedrohung für die Familie heute und auch für die
Familienseelsorge sehen P./Ch. die falsche „Idealisierung der
Form der Familie und das geringe Verständnis ihrer Funktion"
l 155) an. Denn die Idealisierung der Familie konzentriert das
Interesse auf die private Dimension des Lebens auf Kosten der
öffentlichen. ..Der Ruf zur Bewahrung der Erde bedeutet, daß
man nicht allein für die Familie, sondern auch für die Kinder
Gottes außerhalb der Familie Verantwortung übernehmen soll".
Außerdem trägt der „idealisierende Druck auf die Struktur der
Kernfamilie (Vater. Mutter. Kinder, eventuell andere Verwand
te)... auch zum Desinteresse an Menschen in weniger traditionellen
Familienstrukturen bei (kinderlose Familien, alleinerziehende
Eltern. Zweitfamilien)" (156).

Aus alledem ziehen die Vff. die Konsequenz, sich in ihrem
Buch auch ausführlich mit der „Scelsorge bei Trennung und Beziehungsverlust
" (1611 und der sog. „Zweitfamilie" zu beschäftigen
. Im Gespräch mit anderen Konzeptionen entwickeln sie ein
Fünf-Phasen-Modell, mit Hilfe dessen der Verlauf einer Scheidung
dargestellt und als komplexer, traumatischer Prozeß begriffen
werden kann. Interessant ist in diesem Zusammenhang der
Versuch, in groben Strichen eine Theologie der Trennung und
Scheidung zu entwerfen: „Eine Theologie der Scheidung sollte
diese im Kontext aller Verluste des Menschen interpretieren. Sie
hat mit fehlbarer menschlicher Auswahl, aber auch mit Umständen
zu tun, für die die Menschen nicht verantwortlich sind... Ehen
können sterben, doch das Leben soll für die ehemaligen Ehepartner
weitergehen, solange sie atmen, und wenn Gott uns wirklich
zur Bewahrung der Schöpfung berufen hat. dann endet die Verantwortung
füreinander auch nicht mit dem Tod einer Ehe" (1891'.).

Bei den Überlegungen zur „Zweitfamilie" (im amerikanischen
Original: blended family) werden die bisherigen Einsichten
zur Ehe- und Familienseelsorge anhand eines konkreten
Fallbeispiels noch einmal exemplarisch vorgeführt. Dabei erweist
sich die Unterstützung des elterlichen Paares als wichtigste
seelsorgliche Aufgabe, weil nur so die Integration eventuell
vorhandener Kindel' aus der ersten Ehe gelingen und die Stigmatisierung
der Zweitfamilie durch Gesellschaft und Kirche
aufgefangen werden kann. Im letzten Kapitel gehen die Vff. auf
einige Grundprobleme seelsorglicher Beratung der Generationen
ein. geben Hinweise auf Möglichkeiten der Weiterbildung
in diesem Bereich und wagen auch einen durchaus (selbst-»kritischen
Überblick über ihr Buch.

Wirkt die Veröffentlichung zu Beginn der Lektüre - z.B. im
Bereich der biblisch-theologischen Grundlegung - an manchen
Stellen etwas oberflächlich, erweist sie sich beim Weiterlesen
als zusehends profunder und überzeugender. Dabei vermag sie
eine breite Leserschaft anzusprechen und praktische Hilfe zu
leisten. Der Gefahr einer zu individualistischen Sichtweise der
Ehe durch das funktionale Eheverständnis versuchen die Vff.
mit dem Hinweis auf die grundsätzliche Bestimmung des Menschen
zu verantwortungsvoller Fürsorge für die gesamte Schöpfung
zu begegnen. Vor allem an dieser Stelle werden allerdings
Anfragen an den vorliegenden Ansatz zu erwarten sein.

Der Versuch, theologische Reflexion und praktische Arbeit
in einem Bereich zu verbinden, in dem weitgehend humanwissenschaftliche
Ansätze vorherrschen, ist begrüßenswert. Deshalb
kann sieh der Rez. dem wohlwollenden Geleitwort Joachim
Scharfenbergs grundsätzlich anschließen: „Ich wünsche
diesem Buch, das selbst ein Stück lebendiger Zusammenarbeit
zwischen Vertretern verschiedener Generationen und Denominationen
ist. nicht nur aufmerksame Leser unter den Betroffenen
und Helfern, sondern es scheint mir auch Anregung dafür
zu geben, wie therapeutische Praxis und Lehre, theologische
Rechenschaft und psychologische Technik miteinander verbunden
werden können" (10).

Reutlingen Holger Eschmann

Plieth. Martina: Die Seele wahrnehmen. Zur Geistesgeschichte
des Verhältnisses von Seelsorge und Psychologie. Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht 1994. 278 S. gr. 8° = Arbeiten zur
Pastoraltheologie, 28. Kart. DM 68,-. ISBN 3-525-62345-3.

Das Buch bearbeitet ein Standard-Thema der Praktischen Theologie
, indem es die Standard-Autoren zum Thema (0. Pfister, E.
Thurneysen, D. Stollberg, H. Tacke) referiert. Hinzukommen
noch Abschnitte über die Positionen des Pfister-Kritikers F. W.
Foerster und über einen pragmatischen Nutzer der Psychoanalyse
in den zwanziger Jahren (W. Buntzel) sowie auf Seiten der
Psychotherapie (leider nur) über C. G. Jung. Auf diesen ersten
Teil, genannt ..Verhältnisbestimmungen in Vergangenheit und
Gegenwart - ein historischer Überblick" (29-135). folgt als
zweiter Teil: ..Verhältnisbestimmungen in Theorie und Praxis -
ein systematischer Überblick" (137-207).

Er referiert zum einen Aufsätze, die Typisierungen von Verhältnisbestimmungen
vornehmen (R. Riess. T. U. Schall. .1.
Scharfenberg. N. Mette und H. Steinkamp, K. Winkler), und
wendet die F. Riemannschen Grundformen der Angst auf mögliche
Verhältnisbestimmungen von Seelsorge und Psychologie
an. Zum anderen wird die evangelikale Seelsorgeliteratur vorgestellt
und periodisiert in eine erste Phase von 1976-1981. in
der jegliche Verwendung psychologischer Perspektiven und
Termini abgewehrt wurde, und eine zweite Phase von 1984-
1989, in der tiefenpsychologische Termini und Methoden
eklektisch eingebaut wurden in den bleibenden Anspruch auf
ein biblisch-exklusives Seelsorgeverhalten. An der evangelika-
len Literatur gerade der zweiten Phase geht die übliche Seelsorgeliteratur
meist vorbei; so ist es schön, sie hier aufgeführt und
referiert zu finden.

Der dritte und abschließende Teil der Arbeit (209-260) trägt
die Überschrift: „Versuch einer neuen Standortbestimmung" und
äußert sich zum „materialen Aspekt der Seelsorge" als ..Antwort
auf die ,Was-Frage"' und entsprechend zum formalen (.Wie-Fra-
ge') und zum personalen Aspekt (,Wem-Frage'). Dabei spielt
nun erstaunlicherweise das Thema der Verhältnisbeziehung von
Psychologie und Seelsorge keine Rolle. Vielmehr wird hier eine
herkömmliche hermeneutische Perspektive eingenommen. So
lautet die These der „Zusammenfassung": „Christliche Scelsorge
im .Versprechungszusammenhang' von Tradition und Situation
ist ganzheitlich ausgerichtete (Sinn-) Kommunikation im Akt der
Begegnung" (252). Dem wird ein allerletzter Abschnitt nachgeschoben
: „Zur Frage nach dem Verhältnis von Scelsorge und
Psychologie/Psychotherapie: Antwort" (254-260). Dort führt P.
neu die Systemtheorie in einer Fassung nach E. Kayser und M.
Stättner-Kayser ein und fährt dann fort: „Betrachte ich auf der
Basis dieser grundsätzlichen Überlegungen meinen eigenen Seelsorgeansatz
, so komme ich zu folgendem Schluß: Es kommt darauf
an. die Wirklichkeitsgehalte der von mir vertretenen
Wahrheit (des von mir akzeptierten vorgesetzten .Substantial-