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Ausgabe:

1995

Spalte:

1028-1029

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Orth, Gottfried

Titel/Untertitel:

Helmut Gollwitzer 1995

Rezensent:

Haendler, Gert

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. II

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kulturabhängig sind und hier besteht die Einsicht, daß Krankheiten
Ausdruck gestörter Beziehungen sind. Das damit geltende
Menschenbild berücksichtigt die Beziehung zu sich selbst,
zum Anderen, zur Sippe und zur Natur. H. verbindet diese Sicht
mit einer ekklesiologischen Komponente:

„Es ist die ganze Gemeinde, das soma Christou, das Teil hat
an Krankheit und Gesundheit des einzelnen" (25). Darum werden
Fürbittehandlungen in Spitälern als Versuche gewertet, den
Einzelnen aus seiner Vereinsamung herauszunehmen (28). Im
Zusammenhang der Überlegungen zur Liturgie ist ein Satz zur
Handauflegung zu beachten: „Menschen, die ihr Lebtag nie
berührt werden, ...finden es schwer, zu glauben, daß Gott sie
berührt" (31 f.). Mit zwei Fallbeispielen (35 ff.) zeigt H., welche
Chancen in einer Behandlung liegen, in der ein Therapeut
das Gebet des Seelsorgers akzeptiert. Damit können im Bereich
der Theoriebildung zwei Einsichten geltend gemacht werden:
Immer ist auch eine andere Erklärung für eine erfolgreiche Heilung
möglich als nur die vordergründige. Und dann:

Weder der Glaube des Heilers noch der Glaube des Patienten
sind für die Heilung konstitutiv. (Ich möchte die Einsichten als
Aufforderung, von monokausalen Erklärungen wegzukommen,
verstehen). Zur westlichen Schulmedizin vertritt der Autor
schließlich folgende Überlegungen: Dort, wo sie in Bezügen
zur Gesundheitsindustrie und zum Markt steht (z.B. mit den
Psychopharmaka), wird sie problematisch. Jedenfalls ist ihre
Plausibilität nur für eine Minderheit der Weltbevölkerung gegeben
; wenn sie in den Bereich anderer Kulturen importiert wird,
kann sie unwirksam oder schädlich sein. Als Denkanstoß z.B.
aus afrikanischen Kulturen wäre für uns die Einsicht sinnvoll,
daß Krankheiten gestörte Sozialbeziehungen bedeuten.

Im Abschnitt „Geist und Geister" (61 ff.) beruft sich H. auf
das Erbe des Kirchenhistorikers Fritz Blanke (Zürich) und auf
Dritte-Welt-Erfahrungen, wenn er eine kritische Akzeptanz
parapsychologischer und paranormaler Phänomene vertritt; weiter
bezieht er sich auf die Position von Köberle und auf die Möglichkeit
im Sinne C. G. Jungs, solche Phänomene als „Schatten"
im Menschen zu verstehen. Im Blick auf die Bibel ist es für ihn
wichtig, daß diese zwar die Überwindung der Dämonen thematisiert
, aber keine eigentliche Dämonenlehre entwickelt; für H.
zeigt das auch den Praxisvorrang, der in der Bibel gegenüber der
Theoriebildung besteht (vgl. auch 105 ff., 110).

Zum speziellen Phänomen der Besessenheit wird der folgende
, bemerkenswerte Satz von Ludwig Pankratz zitiert: „Der
Exorzist schafft in den Besessenen erst den Teufel" (nach H.
Aichelin: Dämonenglaube und Exorzismus, 1976). H. postuliert
im Zusammenhang dieser Argumente ein Gottesbild, das das
Archaisch-Dämonische in sich (als einer Ganzheil) enthält und
das damit der Yin-Yang-Struktur entspricht (115 f.). Der Abschnitt
schließt wieder mit Überlegungen zu einer exorzistischen
Gemeindeliturgie, wobei der Autor Erfahrungen der Zio-
nistenkirche in Südafrika berücksichtigt (118 ff.).

Das Kapitel „Geist und Religion" (121 ff.) bezieht sich wieder
auf die pluralistische Struktur der Bibel und schildert dann
die Position der Quäker. Dazu ein Beispiel: Weil die Quäker auf
die Aussonderung einer bestimmten Zahl von Sakramenten verzichten
, weil für sie alles Sakrament ist, ist ihr ganzes Wirklichkeitsverständnis
sozial bestimmt. Weiter kritisiert H. jene Entwicklung
des Christentums, wo der judenchristliche und jüdische
Mutterboden verlassen wurde. Judenmission wäre auf
Grund dieser Verwurzelung gerade nicht das richtige Zeugnis.
H. sieht dann auch Chancen im Dialog mit dem Islam: Hier gibt
es eine positive Stellung zu Jesus im Koran und es gibt Chancen
einer Knecht-Gottes-Christologie. Der Autor bezieht sich für
diese Öffnung auch auf Zwingli, der in diesem Punkt gegen die
anderen Reformatoren stand; nach Zwingli können auch Heiden
(= Muslime) endzeitlich gerettet werden! Jedenfalls müssen
heute Überlegenheitsansprüche des Christentums und kolonialistische
Strukturen abgelehnt werden (ein Beispiel dieses Zusammenhangs
: Das Christentum argumentiert in Sexual- und
Ehefragen streng, in Geldfragen aber lax, 239). Allerdings: die
Forderung, Dialoge zu betreiben, muß sich auch darauf einlassen
, daß Dialoge auch Verwundungen im Gefolge haben (266).
Schließlich stellt sich als weitere Dialogaufgabe die positive
Einstellung zum Phänomen der "civil religion" (173 ff.). Sie bezieht
sich auf die Identitätsfindung des Volkes; weiter müßte
das Verhältnis von Evangelium und Kultur eine positive Ausformung
erfahren (175 f.); es geht um die Frage, ob in diesem
Zusammenhang Gott oder Götter wirksam werden.

Der Abschnitt „Geist und Materie" (272 ff.) ist mit der Feststellung
vom Ende des naturwissenschaftlichen Zeitalters verbunden
(vgl. H. Pietschmann: Ende des naturwissenschaftlichen
Zeitalters, 1980). Damit kommt auch der Dualismus von „Geist
und Materie" zu einem Ende. Wer weiter Kausalerklärungen
von Wirklichkeitsprozessen vertritt, macht sich Neurotisierungen
gegenüber gefährdet. Heute gibt es auch den Sinn für das
Mögliche, heute gehört auch der Beobachter ins Experiment.
Und: Elemente der Wirklichkeit sind nicht Teilchen, sondern
Ereignisse und Prozesse. Auch die theologische Sicht sollte
bestimmt sein von der Einsicht, daß Geist und Materie ineinan-
derschwingen und so die Präsenz Gottes in der Schöpfung
bezeugt wird (nach Möllmann 295 f.).

Schließlich wird das Verhältnis von „Geist und Kirche" thematisiert
(301 ff.). H. beurteilt die Ablehnung des „filioque" durch
die Ostkirche positiv, weil sie die Annahme einer Präsenz des
Geistes außerhalb der Kirche erlaubt. Weiter sieht er eine Verbindung
zwischen „ruach" und dem Aspekt der Muttergöttinnen;
„mach" ist damit auch Impuls für Lebensqualität. Denn: Ziel der
Wirkung des Geistes Gottes ist nicht nur die individuelle Bewußtseinswandlung
, sondern die Verwandlung der Welt. Darum müßte
es nach H. auch eine theologische Bemühung geben, die Tri-
nitätslehre auf archetypische Zusammenhänge zu beziehen.

Ich empfinde in der „Interkulturellen Theologie" des Autors
zahlreiche Aufgaben für das Theologengespräch. Erstens: H.s
Interesse an Vermittlungen zwischen Geisterfahrungen und
Schöpfungsglauben wären auf weitere, dogmatische Loci zu
beziehen. Ich meine, diese Vermittlungen wirken sich auch auf
die Rechtfertigung, die Soteriologie und die Eschatologie aus;
sie verhindern dogmatische oder kirchliche Engführungen.
Zweitens: Das Verhältnis zwischen Dogmatik und Ethik erfährt
eine Neubestimmung. Es geht jetzt um einen charakteristischen
Praxisvorrang. Der erste, theologische Erkenntnisschritt ist mit
einer Situationsanalyse zu verbinden, in der die Humanwissenschaften
und die Kultur einen hohen Stellenwert bekommen.
Diese Analyse ist dann mit der biblischen Befreiungsbotschaft
zu verbinden, wobei eine Entflechtung von Situation und Botschaft
zu beachten ist. Mit diesen Ansätzen steht H. in der Nähe
methodischer Entscheidungen der „Theologie der Befreiung".
Drittens: Die Ekklesiologie gestaltet sich im Bezug auf eine
„Kirche von unten". Das Subjekt der Kirche ist das Volk Gottes
unter den Bedingungen der jeweiligen Kultur. Viertens: Im
Bereich der ethischen Argumentation geht es jetzt um induktive
und nicht mehr um deduktive Aussagen; Wertehierarchien sind
zu einem Ende gekommen.

Wien Kurt Liithi

Orth, Gottfried: Helmut Gollwitzer. Zur Solidarität befreit.
Mainz: Grünewald 1995. 191 S. 8° = Theologische Profile.
Kart. DM 38,-. ISBN 3-7867-1828-8.

Das Buch schildert „Gollwitzers theologische Existenz im gesellschaftlichen
und ökumenischen Kontext" (9). Es fehlen die
theologischen Debatten, z.B. mit dem „Bultmannschüler Herbert