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Ausgabe:

1995

Spalte:

1026-1028

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Hollenweger, Walter J.

Titel/Untertitel:

Geist und Materie 1995

Rezensent:

Lüthi, Kurt

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 11

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mittel verstanden, sondern zum Ausgangspunkt einer neuen
Verständigung mit anderen und sich selbst umfunktioniert werden
. Sie solle sich in Trauer verwandeln. Ihr tragischer, existen-
tialer Charakter müsse erkannt werden. Dann könne ihre Aufarbeitung
emanzipierend, sinnstiftend, zukunftsweisend und
selbstverwirklichend wirken. Auf keinen Fall dürfe Schuld verdrängt
werden wie in den bekannten vier Abwehrmechanismen
der Sündenbockprojektion, der sadistischen Selbstanklage, des
Regresses in kindliche Entschuldungsmuster oder der Verleugnung
von Schuld. Sondern sie müsse als eigene Unmündigkeit
erkannt und überwunden werden. .Grundselbstverantwortung'
nennt der Autor solche Anerkenntnis, weil schuldhaftes Gewe-
sensein nur durch bewußte und verantwortliche Übernahme in
neues Selbst-sein überführt werden könne.

Die existenzphilosophische Parteinahme des Vf.s dürfte damit
deutlich geworden sein. Er versteht Schuld als Exislential.
das experimentell und existential verarbeitet werden müßte. Der
genannte Dreischritt einer positiven Schuldverarbeitung trägt
demzufolge bei ihm auch den Charakter einer existentialen Existenzlichtung
: Die Annahme des eigenen Schaltens, jener Quelle
der Selbstentfremdung abgespaltener Fremdanteile des Ich
und des Urgrunds zum Bösen, sei die erste Aufgabe eines von
Schuldgefühlen Geplagten.

Dazu benötige er größere Kräfte als zum Eingeständnis eines
moralisch-normativen Versagens. Er müsse sich (in einem gestuften
Plan) mit seinem eigenen Überich auseinandersetzen,
seinem eigenen Triebpotential begegnen und sich selbst als
Urheber jeweiliger Vergehen begreifen lernen. Wer vor seinem
eigenen Schatten zurückweiche, so betont H. emphatisch, und
nach lockerer Moralbeichte weiterhin seinen Schatten auf das
sog. Fremde. Andersartige und Feindliche projiziere, der verschulde
sich erneut. Schattenannahme reiche zur positiven
Schuldverarbeitung jedoch nicht aus. Sie werfe den Schuldigen
nur auf sich selbst zurück. Deshalb werde als zweite Aufgabe
ein Scludddiaiog mit dem anderen Du notwendig.

Versiert setzt sich der Psychologe hier mit den Möglichkeiten
und Grenzen der Diskursethik auseinander. Sie sei auf der
moralischen Ebene des Schulddialogs zwar sinnvoll und hilfreich
. Aber ihr Konsens- und Universalisierungsansprueh tendiere
, so argwöhnt er. zu Gleichschaltungen und blende persönliche
Handlungsmotive wie z. B. Schuld prozedural aus. Unter
Rekurs auf Hegels Kritik an Kants praktischer Philosophie fragt
er scharfsinnig und m. E. zu Recht: „Wo ist niedergelegt, daß
Sprachspiele auf der Ebene der Moral notwendig vernünftig
sein müssen?" (103). Deshalb sucht er zur Aufarbeitung von
Schuld nach einer besseren dialogischen Vermittlung von Allgemeinem
und Besonderem, als es der kommunikative Diskurs
anzubieten vermöge: und er findet sie im Gedanken des persönlichen
, verstehenden Dialogs, der unter Aufrechterhaltung des
vernünftigen Diskurses Möglichkeiten zum freien Austausch
privater Bedürfnisse zu eröffnen in der Lage sei.

Unter Bezugnahme auf Dilthey, Oadamer; Buber und Rogers konstruier)

er ein solches hermeneutisches Dialogmodell verstehenden Unigangs mit
Schuld, in dem das Erlehle neu offenharl und das Fremde neu verstanden
werden könne. Als Ziel hat er eine Heilung gestörter Beziehungen und
negatier Gegenseitigkeit vor Augen. Die Transaktionsunalyse mit ihrem
Begriff vom .Lebensskript' kommt ihm dabei zur Hilfe: Der sich schuldig
fühlende könne nur im sinnverstehenden Dialog seine lebensskriptmätügen
früheren Überzeugungen. Schädigungen. Verschuldungen. Bindungen.
Ausrottungen. Delegationen. Beziehungsstagnationen. Partnerobjektivierungeil
und Streitfähig- hzw. Unfähigkeiten ( jeden dieser Begriffe analysiert
er ausführlichst) wahrnehmen, aufarbeiten und heilen. Kriterien solchen
Dialogs müßten Gegenseitigkeit. Gaiizheitlichkeit. Echtheit und Fairneß
sein. Diese Forderungen wirken zwar etwas farblos oder gar platt. Aber
in der liefenpsychologisch-existenzphilosophischen Sprache und Semantik
von H. erhalten sie jeweils indiiduelle Konkretionen.

Die dritte Aufgabe einer positiven Schuldverarbeitung sei es.
den verstehenden Dialog in Umkehr und Neuentscheidung einmünden
zu lassen. Der Schuldige müsse den Mut haben, von

Gewohntem Abschied zu nehmen, alte Sicherheiten loszulassen,
sieh selbst zu bestimmen, Vergebung anzunehmen und zu Entbehrungen
oder gar zum Leiden bereit zu sein, um produktiv mit
seiner Verschuldung umgehen und neu anfangen zu können.
Zwar wirkt auch diese Feststellung wieder wie eine Binsenweisheit
. Aber die Art, wie Hubbertz den komplexen, langwierigen
und stolprigen Weg von Umkehr- und Neuentscheidungsprozes-
sen unter zur Hilfenahme von Heidegger, Jaspers, Weischedel
und Camus konkret besehreibt, fasziniert. Die Seiten 185-221
stellen geradezu ein Kabinettstück an tiefenpsychologischer Verarbeitung
existenzphilosophischer Schuldkonzepte dar.

Nach solcher wirklichkeitsnahen Analyse positiver Schuldverarbeitung
nimmt man es dem Vf. gern ab, wenn er im
Schlußkapitel den an sich abgegriffenen Begriff der Selbstverwirklichung
wiederaufnimmt und auf der Grundlage von Kier
kegaards Paradoxon ..Ein anderer kann ich nur werden, wenn
ich derselbe bleibe" neu interpretiert. Sein Resümee überzeugt:
..Sieh selbst ein guter Begleiter sein", sei das Geheimnis eines
positiven Umgangs mit Schuld. Erstaunlich bleibt nur, daß sich
der Vf. nicht ausführlicher mit dem Gedanken struktureller
Schuld befaßt hat. Eine Auseinandersetzung mit diesem Phänomen
könnte ein 2. Buch werden, das ich mir von ihm wünschen
würde.

Osnabrück Reinhold Mokrosch

Systematische Theologie:
Aligemeines

Hollenweger, Walter J.: Geist und Materie. Interkulturelle
Theologie. 3. München: Kaiser 1988. 415 S. 8°. Kart. DM
38.-. ISBN 3-495-01734-1.

Indem Theologie auch Antwort auf die ../eichen der Zeit" ist.
muß sie sieh heute interkulturell orientieren. Zu dieser Orientierung
gehört die Ablehnung des immer noch herrschenden Euro-
zentrismus. und dann ist die herrschende abendländische Begriffsbildung
in der Theologie als Sprache einer Minderheit von
Christen zu verstehen, die anderen nicht auferlegt werden darf
(Hollenweger, Band 1. 12). Damit wird es auch sinnvoll, die
Argumentation Athyals zu Ubernehmen, der sagt: ..Die Bibel
selbst liefert uns ein Muster für indigene Ausdrucksformen des
Denkens" (S. F. Athyal: Auf dem Weg zu einer asiatischen
christlichen Theologie, 1975, z.it. bei H., Bd. 3. 53). Das
dreibändige Werk von H. enthält nun eine Fülle von Denkanstößen
zu einer interkulturellen Theologie. Dabei darf man im
Blick auf die große Linie des Werkes sagen, daß die erkenntnisleitenden
Interessen des Autors in der Verbindung von Geisterfahrung
und Schöpfungsglauben liegen: bei ihm gehört dann
noch dazu, daß er Geisterfahrungen auch auf sein eigenes
Leben bezieht (Bd. 3. 18).

Diese Rez. bezieht sich nun auf den 3. Band mit dem Thema
..Geist und Materie". H. argumentiert mit Synthesen, die eine
Kritik des dualistischen, abendländischen Denkens bedeuten:
(ieist und Leib. Heil und Heilung. Mit Hilfe solcher Synthesen
führt der Autor auch ein kritisches Gespräch mit der Medizin.
Hier erfährt die Schulmedizin Kritik und es erhallen Alternativ
medizin und außermedizinische Heilet (als Ergänzung der
Schulmedizin) eine günstige Beurteilung. Das Gespräch führt
dann zu Überlegungen zu einer Gemeindeliturgie für Kranke
und (iesunde. Diese Liturgie gestaltet sich insofern interkulturell
, als sie Erfahrungen der dritten Welt berücksichtigt: Hier
gibt es ein Bewußtsein dafür, daß Krankheit und Gesundheit