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Ausgabe:

1995

Spalte:

1024-1026

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hubbertz, Karl-Peter

Titel/Untertitel:

Schuld und Verantwortung 1995

Rezensent:

Mokrosch, Reinhold

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Theologische Literatlirzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 11

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einen Begriff von Geschichte als Sinntotalität, die nur um den
Preis erlaßt wird, daß die Opfer der Geschichte „vernachlässigt
werden; wo ihrer gedacht wird, gerät entweder der Sinn des
historischen Vorgangs aus dem Blick oder von den Opfern muß
gelten, daß sie wenigstens grundsätzlich gerechtfertigt waren"
(102). Soll dies auch für die Opfer von Auschwitz gelten? Von
solchen allgemein gehaltenen geschichtsphilosophischen Reflexionen
, die in einem Kapitel über Hegel weitergeführt werden
(130 ff ), ist der Weg nicht weit zur Revision der jüngeren deutschen
Geschichte, die sich vor einigen Jahren im sogenannten
Historikerstreit angebahnt hat und von politisch interessierter
Seite weiter betrieben wird.

Es sind vor allem die geschichtsphilosophischen und politischen
Überlegungen F.s, welche die Grundproblematik seines
Buches zutage treten lassen. Sie besteht in einem fragwürdigen,
zwischen Metapher und realer Gewalt changierenden Begriff
des Streites. Einleitend definiert F. den Streit als „die Zusammengehörigkeit
des Unversöhnlichen" (2). Jeder Versuch, seine
Zusammengehörigkeit zu denken, steht freilich in der Gefahr,
die Unversöhntheit der Wirklichkeit zu überspielen. Eine universale
Hermeneutik, die jenseits der „simplen Alternativen des
Entweder-Oder und des Sowohl-als-auch" (2) alles zu verstehen
versucht, erzeugt den Schein einer Versöhnung und affirmativen
Rechtfertigung des Widersinnigen. In Wahrheit scheitert
jedes Verstehen der Welt im Ganzen an ihren Antagonismen,
für welche das Wort „Streit" im Grunde zu harmlos ist. Wie das
Leben selbst, bleibt auch alles Verstehen fragmentarisch. Fragmentarisch
meint aber nicht nur vorläufig und unabgeschlossen,
sondern auch widersprüchlich und oft genug zum Scheitern verurteilt
. Gerade die Schrecken der Geschichte des 20. Jh.s sollten
uns aus den Allmachtsphantasien einer Hermeneutik wachrütteln
, die alle Wirklichkeit ihren universalen Auslegungsregeln
glaubt unterwerfen zu können und einen Totalitätsanspruch der
Verstehbarkeil erhebt, der seinem Wesen nach totalitär ist.

F.s Plädoyer für eine Philosophie von Freiheit und Streit ist
eine philosophische wie theologische Herausforderung. Man
sagt nicht zu wenig, wenn man es mit einem Begriff Gadamers,
den F. auf eines der Werke Jüngers münzt, als einen „eminenten
Text" (I 10) bezeichnet, der auf Erfahrungen nicht nur verweist,
sondern selbst solche ermöglicht. Insofern hat F. ein lesenswertes
Buch geschrieben, das der Selbstprüfung empfohlen sei.

Wien Ulrich Körtner

Grunnet, Sanne Elisa: Die Bewußtseinstheorie Friedrich
Schlegels. Übers, von E. Harbsmeier. Paderborn-München-
Wien-Zürich: Schöningh 1994. 187 S. gr.8°. Kart. DM 58,-.
ISBN 3-506-73447-4.

Die Arbeit der dänischen Vfn. vertritt in engem Anschluß an die
Interpretationen Ernst Behlers die These von einer wesentlichen
Einheit im Werk Friedrich Schlegels. Diese These soll durchgeführt
werden am Bewußtseins- und Bildungsbegriff, der zunächst
aus den frühen Schriften um 1800, dann aus dem Spätwerk
der 20er Jahre erhoben wird. Das Scharnier bilden für G.
die Kölner Vorlesungen von 1804/05. in denen sich die Wende
vorbereitet, die nach Meinung von G. lediglich eine vertiefende
Modifikation darstellt.

Stärker noch als am Bewußtseins- und Bildungsbegriff, dessen
begriffliche Fassung eigentümlich unscharf bleibt, kann man die
Pointe dieser Schlegel-Interpretation am Begriff der Ironie darstellen
. Schlegels frühromantische (und im Jenenser Romantiker-
kreis weithin geteilte) Auffassung besteht bekanntlich darin, die
theoretisch-praktische Unvermittelbarkeit des Absoluten anzunehmen
. Diese These kann natürlich nur aufrechterhalten werden
, wenn die Unvermittelbarkeit des Absoluten gerade in ihrer

Unverzichtbarkeit - dargestellt wird. Die Form dieser Darstellung
ist die Ironie, die Schwebe von Affirmation und Selbstzurücknahme
, die den Blick auf die dann unmittelbare Präsenz
des Absoluten freigeben soll; in dieser grundbegriffliehen Fassung
kann die Ironie schließlich als Signatur einer transzendentalen
Universalpoesie verstanden werden. Die Frage, die sich an
diese Konzeption notwendig anschließt, lautet: Wie verhält sich
die Reflexion auf die Form der Ironie als Form dieses Gehaltes
zur Ironie selbst als gesprochene Rede (oder geschriebener
Text)? Genau an dieser Stelle kann man bei Schlegel den
Schwenk in die Positivilät beobachten, der ihn konsequenterweise
zur Konversion zum Katholizismus bewegt. Denn anders als
Schleiermacher, der den transzendenten Grund selbst transempirisch
darstellt, sieht sich Schlegel, gestützt auf eine im ganzen
kurzschlüssige Idealismus-Kritik in den Kölner Vorlesungen,
dazu veranlaßt, über Begriff und Phänomen der Sprache eine solche
empirische Präsenz Gottes im gespaltenen menschlichen Dasein
anzunehmen, die in eine Harmonisierung und Befriedigung
tles zerrissenen Bewußtseins im besonderen und des Menschwesens
im allgemeinen auslaufen soll. Freilich läßt sich nicht übersehen
, daß den zum Zwecke dieses Nachweises unternommenen
Konstruktionen Schlegels in seiner Philosophie des Lebens und
der Sprache und des Wortes, die G. heranzieht, ein hohes Maß an
Willkürlichkeit anhaftet. Das kann auch nicht anders sein, wenn
dem Absoluten seine Negativität, von der im frühromantischen
[roniebegriff noch gewußt wurde, ausgetrieben wird.

Insofern überzeugt die These der Vfn. von der Einheit der Philosophie
Schlegels nicht. Zwar ist festzuhalten, daß in der Tat der
kritisch-romantische [roniebegriff, der sich als Repräsentationsform
des Absoluten verstand, einer Näherbestimmung bedarf;
Schlegel jedoch hat diese auf eine Weise vorgenommen, die den
Gewinn, der in Vergegenwärtigung des Absoluten in der Gestalt
einer antithetischen Selbstdistanzierung liegt, wieder verspielt,
indem er sie der religiösen Positivität des Katholizismus anheimgibt
. Diese kritische Konsequenz hat die Vfn. nicht gezogen; sie
bleibt ganz in der affirmativen Haltung zu Schlegel befangen.

Das Buch weist eine Reihe von technischen Mängeln auf! Prim;iix|iiclIcn
werden nach Sekundärliteratur zitiert; die Literaturangaben sind uneinheitlich
und unklar; es linden sich viele Druckfehler; die Diktion ist bisweilen
schwerfällig (was nicht nur auf die Übersetzung zurückgehen dürfte).

Passau Dietrich Korsch

Hubbertz, Karl-Peter: Schuld und Verantwortung. Eine
Grenzbeschreitung zwischen Tiefenpsychologie, Ethik und
Existenzphilosophie. Münster: Lit Verlag 1992. 274 S. 8° =
Psychologie, 18. ISBN 3-88660-678-3.

Das Buch ist etwas Besonderes. Auf 236 Seiten analysiert sein
Vf., ein existenzphilosophisch ausgerichteter Tiefenpsychologe,
einen einzigen psychischen Vorgang: den Prozeß einer positiven
Schuldverarbeitung mit den drei Schritten einer bereitwilligen
Annahme des eigenen Schattens, eines verstehenden Schulddialogs
und einer Umkehr und Neuentscheidung des Lebensskripts.
Obwohl Hubbertz in existenzphilosophischer und -analytischer
Manier schreibt, liest sich seine Analyse zum Teil wie ein span
nender Roman. Er versteht es. anschaulich-elementare Beispiele
für Schuld- und Schattenanahme, Schuldverdrängung und Ent-
schuldungsdiskurse oder positive Schuldverarbeitung aus der
Literatur von M. Frisch. G. Wohmann, M. Kundera u. a. mit den
komplizierten Schuldtheorien C. G. Jungs, M. Heideggers, W.
Weischedels, K. Jaspers. M. Bubers, W. Diltheys, H. Kohuts
u.v.a.m. und mit Fallbeispielen aus psychoanalytischer Praxis so
lebensnah zu verbinden, daß ihm ein tiberzeugendes Konzept
verantwortlicher produktiver Schuld-aufarbeitung gelungen ist.

Er möchte den ausschließlich negativen Beigeschmack von
Schuld überwinden. Schuld solle nicht nur als Last oder Kampf-