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Ausgabe:

1995

Spalte:

1021-1023

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Figal, Günter

Titel/Untertitel:

Für eine Philosophie von Freiheit und Streit 1995

Rezensent:

Körtner, Ulrich H. J.

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 11

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Einblicke z.B. in die Schwierigkeit, heute eindeutig zu sagen,
was Tod sei (Hirntod, Kreislauftod usw.).

Mit den Apparaten zur Zeitmessung, mit den Uhren und ihrer
Geschichte befaßt sich dann der Beitrag von Klaus Borchard.
Bonn. „Die Zeit im Lichte der Technik". Aber er schildert nicht
nur die Entwicklung und die verschiedenen Arten der Uhr als
des Instruments der Zeitmessung von den Anfangen bis zur
Gegenwart (einschließlich Atomuhr), sondern geht dann auch
auf die sich atis der Zeitmessung ergebenden relativistischen
Effekte ein. Hier wird dann im Unterschied zum bloß vorwärtsgerichteten
Zeitpfeil auch tlie Umkehrbarkeit der Zeit herausgearbeitet
. Der Beitrag schließt mit einem Dieter Kind zitierenden
Satz, der auch über dem ganzen Buch stehen könnte: „Der
Gegensatz von objektivem Maß und subjektiver Empfindung"
wird sich ..nie ganz auflösen lassen, und das ist gut so, denn
darin liegt die Spannweite menschlichen Erlebens." (184).

Hans Michael Baumgartner. Bonn, der Hg. des Buches, übernimmt
dann den philosophischen Part „Zeit und Zeiterfahrung."
Er unterscheidet eine Natur-, Erlebnis- und eine Geschichtszeit.
Der wohl entscheidende Gedanke des Beitrags läßt sich etwa so
zusammenfassen: ..Das Problem... der Einheit aller" (dieser
Zeiten) „zusammen, als der Basiszeit in diesen drei Zeiten, ist
philosophisch - über die Erkenntnis des ihnen gemeinsamen,
aber jeweils verschiedenen subjektiven Ursprungs hinaus - vermutlich
nur transzendental-anthropologisch lösbar... " (208).
Dabei wird eine Ubersicht über die philosophischen Zeitdeutungen
bisher kurz skizziert

Den (kath.-(theologischen Aspekt, oder besser: einen theologischen
Akspekt der Zeit stellt Raphael Schulte. Wien, dar:
„Zeit als Glaubenserlebnis. Aspekte christlich-theologischer
Einsicht." Er will - vermeintlich im Gegensatz zu griechischem
Denken - Zeit als erfüllte Zeit, als Kairos, und damit als von
Gott geschenkte Zeit herausarbeiten. Er spricht von Zeit als
„qualitativer Zeit-Fülle" und gibt der Zeit relationalen Charakter
(letztendlieh relational ZU Gott). Theologisch ist Zeit einmal
Anamnese historischen Heilsgeschehens" (257). also Vergangenheit
, ferner „Hoffnung als Zeit-Zuversicht", also Zukunft,

vor allem aber Zeit als Gottes Gegenwart.....da ewiges Leben

als entschieden da ist. gegeben als präsent-bleibende Fülle, als
Leben, das als .ewige Ruhe- lebendigst-präsentes Leben ist,
Heimat, die alle Lebenswege als vollzogene in sich einbirgt."
(268) Das alles wird zwar in schöner Sprache geschildert, aber
kaum in scharfer Begrifflichkeit deduziert.

Damit liegt ein Buch vor. das - wie sollte es bei einer Tagung
anders sein - sehr verschiedene Aspekte auf sehr verschiedene
Weise behandelt. Als ganzes kann es aber nur zur Lektüre empfohlen
werden, besonders für all die. die selbst vom Nachdenken
über das große Rätsel der Zeit bewegt werden.

Marburg Günther Keil

Figal. Günter: Für eine Philosophie von Freiheit und Streit.

Politik. Ästhetik. Metaphysik. Stuttgart-Weimar: Metzler
1994. VI. 181 S. So. Kart. DM 36,-. ISBN 3-476-01204-2.

Wer einen gepflegten Sprach- und Denkstil und prägnante Formulierungen
zu schützen weiß, kommt bei dem Tübinger Philosophen
Günter Figal auf seine Kosten. Die Lektüre seines Buches
ist ein literarischer Genuß. Allerdings hinterläßt F.s Plädoyer
für eine Philosophie von Freiheit und Streit einen zwiespältigen
Eindruck.

F. bezieht Position für eine am Modell der Textinterpretation
orientierte hermeneutische Philosophie, die sich der Tradition
Heideggers und Gadamers verpflichtet weiß. Der Titel des Her-
meneutischen soll anzeigen, „daß man nicht gewillt ist. das heute
allseits beliebte philosophische Spiel des .nachmetaphysischen
' Denkens mitzuspielen und stattdessen versucht, metaphysisch
zu denken und dabei die Metaphysik so differenziert,
so in sich spannungsreich zu sehen, wie sie es verdient" (3).

Die theologische Herausforderung solcher hermeneutischen
Metaphysik besteht zunächst in F.s Skizze einer hermeneutischen
Theologie, welche in der Auseinandersetzung mit Kierkegaard
, mit der Nihilismuskritik Nietzsches und der Spätphilosophie
Heideggers „nach einer theologischen Rede sucht, die
nicht religiös ist" (165). Zur theologischen Auseinandersetzung
fordern freilich auch andere Passagen des vorliegenden Buches
heraus, das in den übrigen Kapiteln gediegene Interpretationen
zu Nietzsche, Adorno, Benjamin und Hegel, aber auch zu umstrittenen
Autoren wie Carl Schmitt und Ernst Jünger vorlegt.

Es ist vor allem die von F. geltend gemachte Zusammengehörigkeit
von Metaphysik. Ästhetik und Politik, welche seine
Auflassung von hermeneulischer Philosophie streckenweise
bedenklich erscheinen läßt. So sehr F.s Zurückweisung des
postmodernen Ansinnens, tlie Philosophie in Rhetorik aufzulösen
, Zustimmung verdient, so fragwürdig sind seine politischen
und geschichtsphilosophischen Konkretionen dessen, was er
unter verbindlichem Sinn versteht. F. formuliert nämlich eine
Kritik des Liberalismus, welche mit einer grundsätzlichen Zustimmung
zu C. Schmitts Theorie des Politischen gepaart ist.
Gerade weil F. die Zusammengehörigkeit von Politik und Metaphysik
betont, nötigen seine Ausführungen zum Wesen des
Politischen zu kritischen Rückfragen an das ihnen zugrundeliegende
Konzept einer hermeneutischen Philosophie.

In einem „Versuch über die Freiheit" (2. Kapitel) stellt F.
ontologische Überlegungen zum Freiheitsbegriff in praktischer
Absicht an. nämlich derjenigen einer Kritik des politischen
Liberalismus, aus welcher der auch von anderen Intellektuellen
neuerdings erhobene konservative Ton in der Philosophie deutlich
herauszuhören ist. F. entwickelt einen pluralistischen Weltbegriff
, demzufolge sich Freiheit in einer Vielzahl von Handlungswelten
realisiert, welche durch Staaten repräsentiert werden
, die miteinander im Streit liegen. Geschichtlichkeit als
Wesenszug menschlicher Freiheit gelangt in der ein Staatswesen
quasi mythologisch legitimierenden Geschichtserzählung
zur Darstellung. Die Frage, wie eine solchermaßen bestimmte
Geschichtsschreibung gegen ihre ideologische Instrumentalisierung
zu schützen ist. bleibt freilich unbeantwortet. Stattdessen
wird F. durch seine Interpretation des Heideggerschen In-der-
Welt-seins als Sein in einer durch den Staat repräsentierten
Handlungswelt zu C. Schmitts Theorie des Politischen und dessen
Phänomenologie der Feindschaft geführt (3. Kapitel). Da
mit dem Zusammenbruch des Ostblocks das Ende des von
Schmitt beschworenen Wellbürgerkriegs gekommen sei. hält F.
es für an der Zeit. Schmitts politische Theorie besser zu verstehen
, als sie sich selbst verstanden hat. Offenbar ist sich F. nicht
darüber im klaren, daß in der Manier des Schmittschen Freund-
Feind-Dezisionismus schon wieder ein neuer Weltbürgerkrieg
erklärt wird, indem z.B. die Angst vor dem Islam politisch instrumentalisiert
wird. Zweifellos gegen ihre Absicht gerät F.s
hermeneutische Theorie des Politischen in die Gefahr, als philosophische
Rechtfertigung kollektiver Vorurteile gelesen zu werden
.

Nicht weniger zwiespältig wirkt F.s Interpretation der Poetik
Ernst Jüngers (6. Kapitel). Denen, die mit Jüngers Werk bis
heute ihre Mühe haben, wirft F. „Ressentiment. Uninformiert-
heit und Selbstgerechtigkeit" vor (93). Er möchte nicht auf sich
sitzen lassen. ..daß man sich in Italien und Frankreich schon
eine ganze Weile blamiert, indem man sich Jüngers Werk gegenüber
verdruckst und bockig verhält" (94). Nun sollten die
Notwendigkeit einer differenzierten Sicht der Vita und die
literarische Qualität der Werke Jüngers inzwischen außer Zweifel
stehen. Beklemmend sind jedoch die geschichtsphilosophischen
Konsequenzen, welche F. zieht. Er entwickelt nämlich