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Ausgabe:

1995

Spalte:

996-997

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Siemens, Peter

Titel/Untertitel:

Carl Friedrich Keil 1995

Rezensent:

Haubold, Arndt

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Seite 1, Seite 2

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995

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 11

996

rende Gebotseinleitung" („wenn du in das Land kommst...")
(195), wobei in einem Kurzschlußverfahren Landnahme und
Beendigung des Exils in eins gesetzt werden: „Der erste dtr
Bearbeiter... situiert mit der historisierenden Gebotseinleitung
die materiale Rechtsordnung in die Zeit nach der Landnahme,
also nach Beendigung von Exil und Fremdherrschaft" (202).
O.s weitere literarkritische Begründungen für diese These können
hier nicht diskutiert werden, jedenfalls ist es konsequent,
wenn aufgrund dieser Datierung das Dtn in seiner Gesamtgestalt
als „ein utopisches Programm des Neuen Israel nach dem
Exil" (193) bezeichnet wird.

Ist mit dem dtr redigierten Dtn einmal die Exilszeit erreicht,
dann ist dies auch der Ort, an dem über den Dekalog gehandelt
werden kann (208-219). Denn einem weiten neueren Konsens
folgend stellt O. fest: „Der Dekalog ist in der Exilszeit entstanden
" (212). Seinen Charakter bestimmt er weder von einem
bestimmten „Sitz im Leben" her, noch sieht er in ihm „ein
Stück Literatur der dtr-exilischen Schultheologie" (211). sondern
faßt ihn als „Zusammenfassung der Tora" auf (208).

Das „priesterliehe Ethos in der Pentateuchredaklion" (219),
dem sich die Darstellung nun zuwendet, findet O. auf drei Ebenen
. Die Priesterschrift selbst (224-230) sei ganz von der Sühnetheologie
geprägt. Ihr theologisches Zentrum sei der Versöhnungstag
(Lev 16). Nachdem „durch die priesterschriftliche
Kultgründung" der Sinai einmal „zum klassischen Offenbarungsort
geworden war", mußte auf einer weiteren Ebene der
Pentateuchredaktor bei der Zusammenfügung des „priesterschriftlich
redigierten Tetrateuch mit dem Dtn" (231) weitere
Eingriffe vornehmen, u.zw. zum einen den Dekalog bereits in
die Sinaiperikope hineinnehmen und zum andern für das nun an
den Rand des Pentateuchs geratene Dtn das Bundesbuch ebenfalls
in die Sinaiperikope einfügen. Damit aber entstehe eine
Lücke zwischen den materialen Rechtsordnungen von Bundesbuch
und Dtn. Um sie zu schließen und „den priesterlichen
Tetrateuch über Dekalog und BB hinaus mit dem Dtn auszugleichen
", füge der Pentateuchredaktor schließlich hinter den
Versöhnungstag das Heiligkeitsgesetz ein (233). Wie das Dtn
das Bundesbuch auslegt, hat nach O. „der Redaktor des HG das
Dtn ausgelegt" (241). Inhaltlich sieht O. im Heiligkeitsgesetz
zwei Schwerpunkte: „Das Programm der Individualethik: Das
Ethos der Nächstenliebe" (243), das sieh vor allem in Lev 19
niederschlage, und „Das Programm der Sozialethik: Der Ausgleich
zwischen Arm und Reich durch die Sabbatordnung"
(249), das sich in Lev 25 finde.

Leider verzichtet ü. seinem diachron-rekonstruierenden Ansatz zufolge
ganz darauf, nach der Bedeutung der Endgestalt des Pentateuchs zu tragen.
Damit umgeht er das Problem, dati die verschiedenen Rechtskorpora zwar
sukzessive und unter Bezugnahme auf die jeweiligen Vorgänger entstanden
sein mögen, jetzt aber mit ihren materiell und in der Begründung durchaus
unterschiedlichen Rechtssätzen die eine Tora bilden. Für die historische
Rekonstruktion mag das genügen, für eine theologische Ethik des Alten
Testaments, die Teil des Gesamten der Theologie sein will, dürfte es aber
kaum ausreichen.

Den Abschluß des dritten Hauptteils bildet die Behandlung
der Ethik in Jesus Siraeh, die O. unter den Titel „Die Integration
der offenbarungstheologischen Begründung der Ethik in die
weisheitliehe Ethik der Ordnungen" (256-263) stellt. Das ganze
Buch findet seinen Abschluß in einem Ausblick auf die apokalyptische
Danielliteratur. Am Ende des Durchgangs durch die
alttestamentliche Ethik bleibt für O. eine Reihe ungelöster Probleme
: „der theologische Widerspruch zwischen der Selbstbindung
Gottes an seinen Heilswillen und der Notwendigkeit einer
Strafgerechtigkeit als Folge der Bindung des Gotteswillens an
Normen des Alltagslebens", „der Grundwiderspruch der Erfahrung
, daß Ethos und gelingendes Leben oft nicht miteinander
vermittelt sind", und der Widerspruch, daß bei der „Begründung
von Recht und Ethos aus der Offenbarung Gottes in der
Geschichte mit seinem Volk" zwar ein „das ganze Volk umspannendes
Bruderethos", nicht aber eine universale Ethik entwickelt
werden könne (266). Erst in „der Apokalyptik des
Buches Daniel werden... im theologischen Motiv der neuen,
von Gott heraufgeführten Welt Lösungen der unter den Bedingungen
dieser Welt ungelöst gebliebenen Problemfelder gefunden
". Damit sei „diese apokalyptische Theologie... auch in der
Ethik des AT der Schlußstein, der über sich hinausweisl auf die
Ethik Jesu im NT" (268).

Die Fachwelt wird dankbar sein, daß O. seine schon bisher an
verschiedenen Stellen dargelegten Positionen nun als Gesamtentwurf
einer alttestamentlichen Ethik vorlegt. Zusammen mil
Crüsemanns Tora-Buch- liegen der alttestamentlichen Wissenschaft
, darüber hinaus aber auch der an ethischen Fragen interessierten
kirchlichen Öffentlichkeit damit nun zwei breit angelegt
Entwürfe vor, die die weitere Diskussion wesentlich bestimmen
werden.

Marburg Rainer Kessler

' Zur Kritik an O.s früher schon dargelegter Position vgl. Frank Crüse-
mann. Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen
Gesetzes. München 1992, 224-228 und O.s Antwort darauf in Eckart Otto,
Die Tora in Israels Rechtsgeschichte, in: ThLZ I I s 1993. 903-910. bes.
907.6.

2 S. die vorsiehende Anmerkung.

Siemens. Peter: Carl Friedrich Keil (1807-1888). Leben und
Werk. Gießen: Brunnen 1994. XI, 355 S. 8». ISBN 3-7655-
9394-X.

Wer interessiert sich heute noch für Carl Friedrieh Keils Leben
(1807-1888) und Werk? Er „teilt das Schicksal seiner Kommentare
und gerät in die Vergessenheit" (8). Die Einbandgestaltung
des angezeigten Buches mit seinem Bildnis hebt die Leselust
sicher auch nicht. Doch ein Blick ins Inhaltsverzeichnis dürfte
Interesse wecken: ein Lebensweg aus ärmlich-sächsischen Verhältnissen
ins Baltikum, in die Aura des Zarentums und berühmter
theologischer Lehrstühle, schließlich zurück nach Leipzig
und über zahlreiche Bücher auf einen bleibenden Platz in der
theologischen Weltliteratur.

Im ersten feil stellt der Vf. Keils Lebenslauf dar: den ungewöhnlichen
Weg eines begabten 14jährigen Dorfjungen aus dem
Vogtland zu einem Onkel nach Sl. Petersburg, wo er, statt die
Tischlerei zu übernehmen, für fünf Jahre auf die St.-Petri-Schule
geschickt wird, weil er für die Hobelbank zu zart erscheint.

Carl Friedrieh Keil verdankt seine spätere Laulbahn allein und immer
wieder Förderern, die seine Begabung entdeckten und ihm finanzielle Wegzehrung
verschafften. Ein Stipendium der Zarin ermöglicht ihm 1X27 ein
dreijähriges Theologiestudium an der Universität zu Dorpat. danach zwei
weitere Studienjahre in Berlin, die er mit dem Lizentiatenexamen abschließt
. Hier gerät er in Kontakt mit Schleiermacher. Hegel. Neander.
Hengstenberg. A. V. Humboldt. In wissenschaftlicher Hinsicht wird Heng-
stenberg sein wichtigster Lehrer, dessen kirchlich-konfessionelle Ausrichtung
ihm mehr zusagt als die spekulative Theologie im Bannkreis Hegels.
Das Herz des Theologen jedoch schlägt, durch Dorpater und Berliner Lehrer
angerührt, im Rhythmus der Erweckungsbewegung. Aufgrund seiner
ausgezeichneten Leistungen eröffnet sich für Keil 1X33 eine wissenschaftliche
Laufbahn an der Universität Dorpat. Sechs Jahre dauert es aber, bis Keil
1X39 das ersehnte Ordinariat erhält. Der spannende Weg bis dahin ist exemplarisch
ein Stück baltischer Kirchen- und russischer Kolonialgeschichte
des 19. Jh.s. Der Leser erfährt Hintergründe zur Geschichte der - zur einzigen
protestantischen Landesuniversität anvancierten - Kaiserlichen Universität
Dorpat. ein Schwerpunkt der Darstellung Uberhaupt. Nicht Keil als
Person hat sich am Ende durchgesetzt, als vielmehr jene kirchlich-konfessionelle
Richtung gegenüber der historisch-kritischen Theologie. Bis heute
ist die evangelische Frömmigkeit in Rußland und in den ehemaligen
Sowjetrepubliken davon geprägt worden. Bereits mit 51 Jahren erreicht
Keil das 25jährige Dienstjubiläum im russischen Staatsdienst, das ihm eine
ehrenvolle Pensionierung und die Heimkehr in seine sächsische Heimat
erlaubt, wo er in Leipzig für fast 30 Jahre ansässig wird. In dieser Zeit