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Ausgabe:

1995

Spalte:

984-985

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Clifford, Richard J.

Titel/Untertitel:

Creation accounts in the ancient Near East and in the Bible 1995

Rezensent:

Naumann, Thomas

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. I 1

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sten" zu vergleichen als mit den geisterfüHten Aposteln des
Pfingsttages (41). In der Gegenwart ist „gespanntes, tätiges
Warten" auf eine neue Sprache des Glaubens am Platz (ebd).
Aus dieser Situation zieht der Vf. den Schluß, daß „Vorverständnis
" als „hermeneutische Kategorie unzureichend" sei.
weil sie noch immer einen Lebensbezug zu der in Rede stehenden
Sache voraussetze (43). Jedoch: Gibt es ein Verständnis des
Evangeliums, wenn es in der Tat kein Lebensverhältnis zum
Heiligen, zum gnädig Gewährten, zum Wachstum und dergleichen
mehr geben sollte? Zuzustimmen ist dem Vf. darin, daß
mit der „Sünde im Verstehen" (51 f.) zu rechnen ist. Zuzustimmen
ist ihm auch darin, daß Verslehen in dieser Konstellation
nur noch ein „Widerfahrnis" sein kann, „das weder durch den
Appell an unser Einverständnis noch durch das Postulat eines
neuen Paradigmas erzeugt werden kann" (60). Doch genau hier
beginnt das methodische Problem, wie gleichsam die EJU'fhjuia
des Lesers, dessen Vereinnahmung des Textes, bekämpft werden
kann.

Im Blick auf die Lehre vom vierfachen Schriftsinn (vgl.
„Schrift und Geist", 62 ff.) werden der Willkür des Lesers
jedenfalls Grenzen gesetzt. Der Allegorese ist zugutezuhalten,
daß sie eine Ahnung vom Sinnüberschuß der Texte hat. Der
historisch-kritischen Exegese ist anzulasten, daß sie genau diesen
Überschuß übergeht, weil sie die Autonomie des Textes
gegenüber seinem Autor übersieht (84; dies gilt freilich nur für
jene [pervertierte] historische Exegese, welche sich auf die
Erhellung der Produktionsbedingungen beschränkt und es so
nicht mehr zu einer Begegnung mit dem Text kommen läßt).
„Demgegenüber lenkt die literarische Hermeneutik unseren
Blick auf den Text als materielles Artefakt, das einzig kraft seiner
Buchstäblichkeit eine Sinnfülle erzeugt" (ebd.). Wenn es
zur Überwältigung des Textes durch den Leser kommt, sind
Allegorese und Typologie (und mit ihnen die tiefenpsychologische
Exegese) abzulehnen (86).

Was aber ist dann die legitime Rolle des Lesers? Rezeptionsästhetische
Einsichten weisen darauf hin, daß „nicht nur der
Glaube der ersten Jünger, sondern auch der heutige Leser ein
integrierender Bestandteil... der Schrift selbst ist" (110). Der
Text findet seine Vollständigkeil erst dort, wo sich gläubige
Annahme ereignet. Dies ist freilich kein Werk des Lesers, sondern
„suffizient sind die biblischen Texte in dem Sinne, daß sie
hinreichend sind als alleiniges Stimulans gläubiger Rezeption,
welche sich selbst wiederum nicht als autonome Leseleistung,
sondern als Gabe, nämlich als Frucht des Lesens begreift"
(III). Der Stoff ist es also, welcher den Menschen Uber sein
Siindersein hinauszuführen vermag, nicht ein Appell an die
Offenheit oder die Forderung des Gehorsams. Damit ist ein
Reflexionsniveau erreicht, das man in vielen Hermeneutiken
vergeblich sucht.

Man wundert sich nicht mehr, daß hier mit sicherem Blick
die laischen Alternativen in Sachen Entmythologisierung erkannt
werden (137-143) und daß die Rückschritte hinter Bultmann
(bei Hollenweger und Hübner etwa) als solche entlarvt
werden (150-153). Mythos und Metapher sind - über Bultmann
hinausgehend - neu zu verbinden (153 ff.); dies versucht der
Vf. mit Hilfe einer „semantische)n) Theorie der absoluten Me-
taphorik religiöser Rede" (157). die es erlaubt, eine sinnvolle
religiöse Sprache zwischen Mythos und Metaphysik zu finden
(158 ff.). Ihre Fiktionalität (verstanden mit Iser) teilt etwas über
die Wirklichkeit mit, und in diesem „Kommunikationsgeschehen
" ereignet sich zugleich „Wahrheit' (173). die mehr ist als
ein Existential und zugleich weniger als eine Objektivation. Mit
diesem aussichtsreichen Hinweis endet der interessante Streif-
/ug durch hermeneutische Grundprobleme, der in diesem Buch
geboten wird.

Zürich H;ms Weder

Altertumswissenschaft

Clifford. Richard J.: Creation Accounts in the Ancient Near
East and in the Bible. Washington: Catholic Biblical Association
of America 1994. XIII, 217 S. 8« = The Catholic Biblical
Quarterly Monograph Series, 26. Kart. $ 9.-. ISBN 0-
915170-25-6.

Um es vorweg zu sagen: Das Buch ist hochwillkommen. Es
ermöglicht eine Reise durch die Welt der altorientalischen
Schöpfungsvorstellungen (Kosmogonien), und es zeigt, wie die
kosmogonischen Konzepte in biblischen Texten Bestandteil
dieser Welt sind und dennoch eigene, kreative Stimmen in diesem
vielstimmigen Chor bilden. Der Vf.. durch frühere Veröffentlichungen
zu einzelnen Aspekten des Themas bestens ausgewiesen
, verfolgt mehrere Ziele. Er will die nichtbiblischen
Schöpfungskonzeptionen von ihren eigenen Voraussetzungen
her verstehen, nicht von vornherein im Hinblick auf ihre Vergleichbarkeit
mit biblischen Texten. Im Unterschied zu der sich
auf einzelne Fachdisziplinen beschränkenden neueren Altorientalistik
rückt er die Kosmogonien Mesopotamiens, Syriens und
Ägyptens in eine vergleichende Perspektive. So ergibt sich eine
möglichst breite Grundlage sowohl für den Vergleich mit biblischen
Texten als auch für die Frage, ob hinter der Vielfalt der
Zeugnisse ein gemeinsames "Concept of Creation" sichtbar
wird, und wie sich dieses von unseren modernen Schöpfungsvorstellungen
unterscheidet. Um dem gegenüber aller Vergleichswissenschaft
erhebbaren Vorwurf unzureichender
Kenntnis einzelner Fachgebiete zu begegnen, stützt sich der Vf.
auf die Arbeiten von jeweils ausgewiesenen Spezialisten: für
sumerische Kosmogonien bes. auf J. van Dijk. für ägyptische
auf E. Hönning und J. Allen.

Das eigentliche Schwergewicht liegt auf den "Creation
Accounts in the Ancient Near East" (11-133), dem ein knapper
Durchgang durch biblische Schöpfungstexte (135-197) nachfolgt
.' Der Vf. berücksichtigt neben epischen Texten auch Kosmogonien
anderer Textgattungen (Götterlisten, Weiheinschriften
, Beschwörungen usw.). Die Texte werden in ihren relevanten
Partien jeweils in englischer Übersetzung2 (oft die der Editoren
oder letzten Bearbeiter) abgedruckt, im Hinblick auf ihre
kosmogonischen Konzeptionen kommentiert und in größere
Zusammenhänge gestellt. Das ergibt über 70 erwähnte, zum
großen Teil abgedruckte Zeugnisse, die auch über einen nützlichen
Index erschließbar sind. Neben so bekannten Texten wie
den Epen Enuma Elis und Atrahasis sind auch weniger bekannte
oder erst jüngst edierte Texte anzutreffen: z.B. das Streitgespräch
zwischen Palme und Tamariske in der Emar-Version
(1989) oder der neubabylon. Text von der Erschaffung des
Menschen und des Königs (1987). Die im Alten Orient am weitesten
verbreiteten mesopotamischen Kosmogonien werden bis
in seleukidische Zeil verfolgt. Phönizien ist mit der Karatepe-
Inschrift KAI 26 sow ie den Eusebius-Fragmenten des Philo von
Byblos vertreten. Hinweise auf hethithisch-hurritische Kosmogonien
fehlen leider ganz.3 Unter den uns bisher bekannten
Texten von Ugarit finden sich keine eindeutigen Schöpfungstexte
. Die Frage, ob der Mythus vom Kampf Baals mit Mot
bzw. Jam als Kosmogonie zu verstehen ist, weil in der Bibel
Chaoskampfmetaphern auch in Schöpfungstexten (Ps. Dtles)
begegnen, beantwortet der Vf. negativ und korrigiert damit
eigene, frühere Annahmen.

Im Vergleich ergeben sich typische Kennzeichen altorientalischer
Kosmogonien: Die Menschen im Alten Orient kennen
keine einheitlichen, in sich schlüssigen Vorstellungen von der
Erschaffung der Welt, sondern tolerieren mühelos unterschiedliche
Versionen und Motive, die nach dem Maß moderner