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Ausgabe:

1995

Spalte:

977-979

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Genette, Gérard

Titel/Untertitel:

Die Erzählung 1995

Rezensent:

Reinmuth, Eckart

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. I I

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bemüht? Auf jeden Fall sollte man auch hier eher von der Rolle
des ikonischen Zeichenaspekts in der (phylo-(genetischen Se-
miotik her Beschreibungs- und Erfclärungsadäquatheit suchen
(vgl. G. Bentele. Zeichen und Entwicklung, 1984. 226-315).

Abseits solcher Grundfragen erfreut das vorliegende Werk
immer wieder durch seine Klarheit, die ja der Königsweg der
Erkenntnis ist. Wir erhalten eine kritisch konstruktive und kreative
Aufarbeitung der verschiedenen Ansätze durch eine detaillierte
Analyse der einschlägigen Publikationen (leider ist dazu
die Bibiliographie [305-312] sehr unvollständig).

Saarbrücken Wolfgang Schenk

Genette. Gerard: Die Erzählung. Aus dem I ran/, von A.
Knop. mit einem Vorwort hrsg. von .1. Vogt. München: Fink
1994. 319 S. gr.8° = UTB für Wissenschaft, geb. DM 58,-.
ISBN 3-8252-8083-7.

Die Besprechung der deutschen Ausgabe eines Klassikers der
modeinen Literaturtheorie, näherhin der Erzähltextanalyse, in
der ThLZ mag verwundern; sie deutet indessen darauf hin. wie
unumgänglich die Wahrnehmung literaturwissenschaftliehen
Handwerkszeugs für die Interpretation biblischer Texte geworden
ist. Freilich, wer unter den Exegeten sich näher mit der
gegenwärtigen Erzähltextanalyse auseinanderzusetzen sucht,
stößt bald auf unübersichtliches Terrain, m dem sich zudem
sehr verschiedenartige Gestalten methodologischer Entwürfe
tummeln. In der deutschsprachigen Literaturtheorie und Erzähltextanalyse
wurde indessen leider, obwohl hier vor allem in den
letzten beiden Jahrzehnten wichtige Vorstöße gelangen, weitgehend
, zumindest bis Anfang der 9()er Jahre, auf die Rezeption
G.s verzichtet (1990 erschien die .Einführung in den Architext',
frz. Orig. 1979; 1992 .Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des
Buches", frz. Orig. 1987 sowie 1993 .Fiktion und Diktion', frz..
Orig. 1991 und .Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe",
frz. Orig. 1982). Die vorliegende Ausgabe enthält nun sowohl
den .Diskurs der Erzählung. Ein methodologischer Versuch'
(Discours du recit. zuerst 1972 in dem Sammelband G. Genette.
Figures III erschienen) als auch den Neuen Diskurs der Erzählung
(Orig. 1983).

Die Herausgabe dieses ältesten theoretischen Entwurfs von
G. (eine abstraktere Vorform lag bereits 1966 mit der Skizze
Frontieres du recit vor) in deutscher Übersetzung vor diesem
allgemeinen Hintergrund ist m.E. verdienstvoll und auch von
Bibelwissenschaftlern zu beachten. In der englischsprachigen
narratologischen. aber auch exegetischen Literatur begann die
Rezeption G.s weitaus früher. Die Übersetzung und Herausgabe
der Werke von (i. sind also auch in dem Sinne verdienstvoll, als
sie u.a. die exegetische Korrespondenz mit der angelsächsischen
Forschung erleichtern und eine gleichsam nachholende
Rezeption in unserem Sprachraum ermöglichen.

Der .Diskurs' ist in fünf annähernd gleichumfängliche Kapitel
unterteilt. Man kann die ersten drei (sie sind mit .Ordnung'.
.Dauer'. .Frequenz' überschrieben) unter dem Aspekt der Zeit
und ihrer Aspekte zusammenfassen. Es folgen mit dem vierten
und fünften Kapitel (.Modus'. .Stimme') Analysen zu den verschiedenen
narrativ realisierten Perspektiven und Aspekten
(also den unterschiedlichen Graden narrativer Repräsentation)
und zu den personalen narrativen Instanzen (Held. Erzähler.
Autor. Adressat u.ä.). Das Grundmuster des Werkes wird also
durch die drei wichtigsten Bestimmungen des Verbs (Tempus.
Modus. Person) gebildet.

Als 1966 die oben erwähnte erste Skizze zum .Diskurs' in der
Zeitschrift Communications erschien (Nachdruck 1981), stand
sie in der Nachbarschaft grundlegender Aufsätze von Barthes.
Greimas. Bremond. Todorov. Eco u.a. - ein deutlicher Hinweis

darauf, daß die Wurzeln G.s im Strukturalismus zu suchen sind.
Freilich ist G. unter dieses Stichwort nicht zu pressen - er vertritt
vielmehr einen konsequent offenen Strukturalismus. So
kann für ihn wissenschaftliches Handwerks/eng. etwa die neu
geprägten erzähltextanalytischen Kategorien, nie mehr als operative
Bedeutung haben. In diesem Sinne gibt G. in seinem
Nachwort zum Diskurs (189) der Hoffnung Ausdruck, daß sei
ne theoretischen Erhebungen ..schon in ein paar Jahren veraltet
sein" werden - eine Hoffnung, die sich nun in dieser Weise
nicht erfüllt hat.

G. entwickelt und exemplifizier! seine Theorie an Marcel
Prousts A la recheiche du temps perdu - Auf der Suche nach der
verlorenen Zeit (vgl. die diesbezüglichen Reflexionen II f.).
Danehen werden punktuell und meisterlich vielfältige Beispiele
aus der Weltliteratur beigezogen. Die Konzentration auf das
Werk von Proust hat den Vorteil, daß gleichsam induktiv vor den
Augen der Leserschaft der erzähltheoretische Entwurf entwickelt
werden kann - immer überprüfbar am Gesamt des analysierten
Textes, Auf diese Weise löst G. sein Ideal der Offenheit und Pro-
zeßhaftigkeit literarischer Analyse glaubwürdig ein.

Der .Neue Diskurs der Erzählung' wird vom Autor untertreibend
als ..nur eine Art Postscriptum zum Diskurs der Erzählung
" bezeichnet (195). Dieser Teil, um knapp die Hälfte
schmaler als der .Diskurs', reflektiert die wissenschaftliche (v.a.
englischsprachige) Resonanz des ersten Buches und versuch!
die seitdem zu beobachtende Entwicklung, also den Zeitraum
/w ischen 1972 und 1982. zu bewerten. Sein Strukturprinzip ist
durch den .Diskurs" vorgegeben: Es geht zunächst um allgemeine
Vorfragen, sodann um die Probleme von Zeit. Modus und
Stimme in der Erzählung sow ie abschließend um Themen, die
im .Diskurs" noch nicht angesprochen worden waren. Unserer
nachholenden Rezeption G.s ist mit der Herausgabe beider Diskurse
in einem Band ein großer Dienst geleistet. Die Kommuni
kativität des ursprünglichen Entwurfes wird unterstrichen und
fortgesetzt, die Auseinandersetzung wird durch den Blick auf
die bereits in den .neuen Diskurs' eingegangenen Fragestellungen
erleichtert. Es gelingt Genette überdies, in dieser kritischen
Relecture des Diskurses einige seiner Ausführungen zu verbessern
bzw. zu präzisieren.

Dem Buch sind zwei Bibliographien zu den beiden Diskursen
angehängt. Hier hätte man sich eine integrierte Bibliographie
gewünscht, bei der die Dopplung bibliographischer Angaben
zu Autoren wie Roland Barthes. Wayne Booth. Käte Hamburger
oder Tran/ Stanzet (vgl. aber auch die editionshistorisch
differierenden Angaben zu Tzvetan Todorov oder Boris Us-
penski; der Nachweis der ,Bauformen des Erzählens' von Eber
hart Lämmert wurde in der zweiten Bibliographie offenbar vergessen
) vermieden worden wäre. Überdies hätte ein Studienbuch
wie das vorliegende auch eine gesonderte Bibliographie
Geneltes sow ie eine Überprüfung der z.T. nachlässigen bibliographischen
Angaben verdient. Nicht einmal das Impressum
weisi die Daten der französischen Originale aus; sie sind in der
Tat für den Nichteingeweihten nur aus dem Nachwort von
Jochen Vogt erschließbar.

Das anschließende Sachregister isl mit seinen knapp drei Seiten
Umfang von äußerst restriktiver Kürze. Ich habe mir nebenher
über ein Dutzend Fachwörter notiert, die unter dem angegebenen
Kriterium (.tradierte oder neugeprägte Begriffe, die in
einem technischen Sinne verwende! wurden'; vgl. 313) hätten
Aufnahme finden müssen. Überdies bezieht sich das Sachregister
ohne jeden Hinweis lediglich auf den .Diskurs", so daß Hinweise
auf die Diskussionen im .neuen Diskurs' nicht geboten
werden. Das ist bedauerlich: so ist z.B. die 201 f. scharf akzentuierte
Differenzierung zwischen Diegese und Diegesis aus dem
Sachregister in keiner Weise zu ersehließen.

Die Theoriebildung der Erzähltextanalyse zeig! eine diffuse
Diskussionslage, die zu z.T. gravierenden Definitionsproble-