Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1995

Spalte:

937-940

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schwarz, Christian A.

Titel/Untertitel:

Die Dritte Reformation 1995

Rezensent:

Ratzmann, Wolfgang

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

937

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 10

938

arbeiterin des Pfarrers, andererseits wird ihr keinerlei amtliche
Rolle zugestanden, sondern die Amtsautorität allein dem Mann
vorbehalten. Faktisch war die Pfarrersehe obligatorisch, ledige
Pfarrer standen unter entsprechendem Druck. Andererseits galt
eine feste Anstellung als Voraussetzung, so daß die Planer
durchschnittlich erst mit 3 1.2 Jahren heiraten konnten. Seit dem
spülen Kaiserreich verfugten immer mehr Pfarrfrauen über eine
Berufsausbildung, meist im pädagogischen oder pflegerischen
Bereich. Die höhere Lebenserwartung und das niedrigere Hei-
ratsalter der Frauen ergaben für sie ein dreifach höheres Risiko
als für ihre Männer, das letzte Lebensdrittel ohne Ehepartner zu
verbringen. Den Pfarrfrauen wurde im Unterschied zu den
Frauen in anderen bürgerlichen Haushalten eine außerordentlich
hohe Arbeitslast zugemutet. Mehr als die Frauen im übrigen
Bürgertum wirkten sie über den häuslichen Bereich hinaus.

Die Kinder/ahl entsprach in der ersten Haltte des 19. Jh.s der in allen Teilen
des Bürgertums. In der 2. Hälfte lagen die Pfarrhäuser mit durchschnittlich
4 Kindern über den anderen akademischen Berufen auf dein Niveau der
Handwerks- und Handelsberufe. Vordem I. Weltkrieg wurden nur noch bei
Bauern. Bergleuten und wenigen Arbeitergruppen mehr Kinder geboren als
in Pfarrhäusern. J. erörtert die Gründe und erinnert an die Belastungen, die
vielen Pfarrfrauen ziemlich unreflektiert zugemutet wurden.

Das Selbslverständnis der Pfarrersfamilien durchlief nach J. im 19; Jh.
einen Wandel von einem um Bildung und Kultur zentrierten Familienleben
zu einer apolitischen Familienidylle als Bollwerk gegen den sozialen Wandel
(457). Dachte man aber in den Pfarrhäusern wirklich apolitisch?
Schwierig ist auch das Urteil, die Nähe und Autorität der Väter habe „nur
selten zu einer vorrangig durch Liebe und Vertrauen geprägten Vater-Kind-
Beziehung" geführt (465). Ist das nachweisbar? Daß der totale Charakter
der pastoralen Berufsrolle die Familie oft belastete, trifft zweifellos zu.

Eingehend schildert J. die starken Anstrengungen um eine standesgemäße
Ausbildung der Söhne, während die Töchter meist der Mutter halfen
und Gefahr liefen, ins soziale Abseits zu geraten, wenn sie nicht geheiratet
wurden. Um I9(X) stieg die Quote der Pastorentöchter mit Berufsausbildung
stark an. Die Bildungszentriertheit der Pfarrhäuser kam den Töchtern
dennoch weit weniger zugute als den Söhnen.

Das reichhaltige Material wird in gut lesbarer Form dargeboten
, Zusammenfassungen und zahlreiche Tabellen erleichtern
die Übersicht.

Allerdings enthalten zusammenfassende Urteile auch die Gefahr
, daß die im Detail erheblichen Unterschiede nivelliert werden
. /.B. wenn gesagt w ird, die soziale Sicherheit habe den
Pfarrerstand für Aufsteiger attraktiv gemacht, oder wenn es
heißt, die Pfarrer hätten relativ viel freie Zeit gehabt. Die These
von der neulutherischen und neupietistischen Klerikalisierung
von 1850 müßte durch ähnliche regionale Studien überprüft
werden. Daß nach 1850 immer stärker konservative Frömmig-
keitsstile dominierten (491). muß sicher differenziert werden.
Eine Frömmigkeitsgeschichte der Altpreußischen Union konnte
und wollte der Vf. nicht bieten, aber zur Geschichte der Pfarrer
und ihrer Familien hat der Historiker einen wertvollen Beitrag
geleistet, für den ihm von theologischer Seite zu danken ist.

Halle (Saale) Fberhard Winkler

Schwarz. Christian A.: Die Dritte Reformation. Paradigmen
Wechsel in der Kirche. Neukirchen-Vluyn: Aussaat: Emmels-
büll: C & P Verlag 1993. 327 S. gr.8«. ISBN 3-761548-68-Q
u. 3-928093-26-2.

Das vorgelegte Buch ist kaum praktisch ausgerichtet, wie man es
aufgrund der zahlreichen Arbeiten des Vfs. vielleicht erwarten
mag. Es soll vielmehr den theologischen Hintergrund umreißen,
von dem her die Arbeit des ..Ökumenischen Gemeindeinstituts"
in Emmelsbüll zu verstehen ist. das deutschsprachige Gemeinden
in Sachen Gemeindeaulhau berät und als dessen Leiter der Vf.
tätig ist. Schwarz knüpft dabei vor allem an die seinerzeit gemeinsam
mit seinem Vater Fritz Schwarz herausgegebene
..Theologie des Gemeindeaufbaus", Aussaat-Verlag Neukirchen-

Vluyn 1984, an, und er versucht, die seitdem geführte kritische
Diskussion mit aufzunehmen. Der Vf. bekennt, auch von den
Kritikern eine Menge gelernt zu haben, und er hofft, mit dieser
relativ umfangreichen neuen Darstellung einen Beitrag zum
Abbau von Vorurteilen und Mißverständnissen zu leisten. Dabei
geht er davon aus, daß es dem Verstehen der eigenen und der
fremden Position dienen kann, sich das jeweilige „Grundmuster"
bewußt zu machen, in das man die eigenen Erfahrungen einordnet
und von dem her Gemeinde und Welt theologisch interpretiert
werden. Dafür verwendet er den inzwischen schon rechl
modisch gewordenen Begriff ..Paradigma".

In einem ersten Teil, überschrieben mit „Gemeindeaulhau
zwischen Mystik und Magie", knüpft der Vf. an die in der
„Theologie des Gemeindeaufbaus" radikal vertretene Unterscheidung
von „Kirche" und „Ekklesia" an. Die damaligen Begriffe
kritisiert er, insofern er nun z.B. einräumt, daß es „exegetisch
nicht sauber" sei. „den neutestamentlichen Begriff ekklesia
nur auf den Ereignis-Charakter von Gemeinde zu beziehen".
Ebenso hält er den damaligen Institutionsbegriff für mißverständlich
(20). Inhaltlich bildet aber auch jetzt die strikte Unterscheidung
zwischen der Kirche als „Institution" und „Ereignis"
die Basis seines ganzen Systems, wobei es ihm nicht um die
Trennung eines Aspektes vom anderen, sondern um die rechte
Zuordnung der beiden Begriffe geht. Vf. weiß nun - gemeinsam
mit manchem Kritiker an der „Theologie des Gemeindeaufbaus
"-, daß das, was „Kirche" ausmacht, sich aus zwei Elementen
zusammensetzt: „einem dynamischen (Ereignis) und
einem statischen (Institution). Beides ist für den Gemeindeaufbau
notwendig: und beide Aspekte sind schon im neutestamentlichen
Begriff ekklesia impliziert" (21). Emil Brunner steht bei
solchen ekklesiologischen Grundsätzen - neben anderen, vorwiegend
reformiert geprägten Theologen - wieder reichlich
Pate.

So harmonisierend zunächst der Vf. zu argumentieren
scheint, so scharf trennt er nun von dieser Basis aus die ihm
begegnenden vielfältigen ekklesiologischen Positionen. Seine
These ist. daß sich Ekklesiologien und theoretische oder praktische
Konzepte des Gemeindeaufbaues entweder mehr oder weniger
mit der Position „Kirche als Ereignis" bzw. „Kirche als
Institution" identifizieren. Von daher entwickelt er eine provokante
ekklesiologische Typologie: Er unterscheidet /w ischen
denen, die der „Gefährdung zur Linken" erliegen und einem
..schwärmerischen Subjektivismus" verfallen sind. Diese Position
bezeichnet er als „Mystik". Und neben sie stellt er die. die
der „Gefährdung zur Rechten" erliegen und einem „institutio-
nalistisehen Objektivismus" anhängen. Diese Position bezeichnet
er als „Magie". Diese einzelnen ekklesiologischen Fehlformen
werden ausführlich gekennzeichnet. Das „mystische Mißverständnis
" ist geprägt vom „Subjektivismus". „Autonomismus
", „Entweltlichung", ..Institutionsfeindlichkeit" und „Anti-
Struktur". Das „magische Mißverständnis" ist gekennzeichnet
von „Objektivismus", „Heteronomismus", „Formalismus".
..Institutionalismus", „Rationalismus" und „Ex-opere-operato
Struktur". So sehr beide Positionen sich unterscheiden, so sehr
sind sie - nach Meinung des Vf.s - letztlich doch darin verwandt
, daß sie ideologisch geprägt sind und daß sie mehr oder
weniger Gemeindeaufbau verhindern. Die Position der Mitte,
um die der Vf. in seinem Buch wirbt, ist dann eine solche, in
der Institution und Ereignis in zweifacher Weise zueinan
der stehen: „Einmal führt das Ereigniswerden von Gemeinde
unausweichlich zur Schaffung von Institutionen: zum anderen
ist es der Zweck dieser Institutionen, dafür nützlich zu sein,
daß Gemeinde Jesu Christi Ereignis wird und wächst" (26).
Diese Position nennt deshalb der Vf. „funktional". Er will in
dieser Weise bewußt „funktional", d.h. nach den „Früchten",
nach der Wirkung fragen: „Nur indem wir nach den - nachweisbaren
- Wirkungen von kirchlichen Strukturen (respektive