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Ausgabe:

1995

Spalte:

927-928

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Hümmeler, Elke

Titel/Untertitel:

Erfahrung in der genetischen Beratung 1995

Rezensent:

Eibach, Ulrich

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Seite 1

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927

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 10

928

Ein Gesamturteil über den Band bleibt zweideutig. Man mag
sich über die vielen Blumen freuen, die zu einem buntgemischten
Strauß zusammengebunden wurden, und erhält Anregungen
und Denkanstöße; der Diskurs ist offen. Man kann sich ebenso
fragen, was der Ertrag für die Sozialethik ist. Hier bleibt insgesamt
vieles ebenfalls im Blick auf das Ziel offen. So ist das
Buch ein zeitdiagnostisches Dokument und ein Abbild einer
Gesprächslage, in der feste Standpunkte aufbrechen, aber die
sprießenden Ideen noch in der Entwicklung sind.

Bonn Marlin Honecker

Hümmeler, Elke: Erfahrung in der genetischen Beratung.

Eine theologisch-ethische Diskussion. Frankfurt/M.-Berlin-
New York-Paris-Wicn: Lang 1993. 219 S. 8» = Forum interdisziplinäre
Ethik, 6. Kart. DM 59,-. ISBN 3-631-46599-8.

Die genetische Diagnostik wird insbesondere durch die gentechnischen
Diagnoseverfahren stetig ausgeweitet. Zwar hat die
„Gesellschaft für medizinische Genetik" nachdrücklich gefordert
, daß jede Diagnose in eine Beratung eingebettet sein soll,
doch ist dies - mit abnehmender Tendenz - nur bei höchstens
einem Viertel der Diagnosen der Fall. Entsprechend entwickelt
sich vor allem in der vorgeburtlichen Diagnostik ein Automatismus
, der meist automatisch die vorgeburtliche „Euthanasie"
nach sich zieht.

Die Dissertation von E. Hümmeler geht davon aus, daß Beratung
sein soll, bedenkt aber nicht hinreichend, daß und warum
sie immer weniger stattfindet. Dies ist nicht nur den Anbietern
von Diagnoseverfahren anzulasten, sondern liegt auch im Interesse
derer, die gemäß dem herrschenden gesellschaftlichen
Zwang zur Gesundheit ein gesundes Kind haben oder bei sich
eine erbliche Krankheit ausschließen möchten. Damit wird die
von H. herausgestellte „Konflikthaftigkeit der genetischen Diagnostik
und insbesonderederpränatalen Diagnostik"(186, 7111.)
überspielt und deshalb eine Beratung letztlich auch überflüssig.
Deshalb wird man der aus christlicher Sicht unverzichtbaren
Norm, „menschliches Leben in allen seinen Erscheinungsformen
zu schützen und zu bewahren" (17). nicht mehr gerecht.
Die ist nur gewährleistet durch eine Beratung, in der auch die
Achtung vor der Würde des kranken Lebens thematisiert wird
(16. 19 u.ö.). Das heißt, daß Beratung nicht „wertneutral"
geschehen kann (187), aber doch nicht „direkliv" vorgehen soll
(180). Daraus ergibt sich das in der Arbeit verhandelte Grund-
problem, „auf welche Weise die Ratsuchenden der genetischen
Beratung diese Grundentscheidung zugunsten des Lebens mitvollziehen
können" (19).

Die Autorin stellt die genetische Beratung in den Konflikten
(persönliche, partnerschaftliche, familiäre, gesellschaftliche)
dar, die durch die genetische Diagnostik aufbrechen (80ff.).
Ziel der Beratung ist nicht die Lösung des Konflikts im „Sinne
eines Verschwindens oder Sich-Auflösens". sondern den Konflikt
so zu regeln, „daß er positive Folgen hat" (71). Der Konflikt
stellt eine Herausforderung an die "Wandlungsfähigkeit"
des Menschen dar, die ihn zu „höherer Lebensqualität, zu einer
besseren, menschlicheren Wirklichkeit und zum Glücken
menschlichen Daseins" führt (79). Konflikte, auch die Infragestellung
des eigenen Lebenskonzepts durch ein behindertes
Kind, sollen demnach Chancen zu Wachstum und Reifung, zu
einem glückenden Leben darstellen. Daraus folgt für die genetische
Beratung: „Wenn genetische Beratung und pränatale Diagnostik
menschlichere Lebensmöglichkeiten und positive Zukunftschancen
für die Ratsuchenden eröffnen wollten, dann
müßten sie auch die Interessen des Kindes vertreten und den
Ratsuchenden zeigen, daß das Leben des Kindes auch im Interesse
der Eltern liegt" (182) und zu einem im tieferen Sinn

glückenden Leben führen kann. Die Autorin zeigt das an einigen
Äußerungen von Eltern behinderter Kinder. Dem könnten
freilich zahlreiche Beispiele zerbrechenden Lebens entgegengestellt
werden, die man auch bei aller Bereitschaft zur Sinnfin-
dung im Leiden nicht als Formen glückenden Lebens beschreiben
kann, wenigstens nicht bei einer innerweltlichen Betrachtung
. Die Autorin ist sich bewußt, daß eine derartig theologisch
geprägte Vorstellung von „glückendem Leben" gegen den
gesellschaftlichen Trend nach Glück ohne Leiden steht, hofft
aber, daß einige Eltern durch diese Sicht zu einer Entscheidung
für das behinderte Kind finden und so in der Gesellschaft eine
Zeugenfunktion übernehmen, die einen „Umgestaltungsprozeß"
initiiert, „der zu einer neuen Wertorientierung führt" (194).

Ziel der Beratung ist es. dahingehende „bewußte und selbstverantwortete
Entscheidungen zu fördern" (187), und zwar,
indem die Erfahrungsbasis für diese Entscheidungen erweitert
wird. „Erfahrung" ist neben dem Begriff „Konflikt" der /weile
theoretische Grundbaustein der genetischen Beratung. Die
Autorin greift auf in der kath. Moraltheologie (Gründel, Mielh,
Egenter u.a.) entwickelte Modelle von Erfahrung zurück, die
einerseits die Autonomie des sittlichen Subjekts herausstellen
und in denen andererseits die Erfahrung die Basis für sittliches
Entscheiden liefert. Erfahrung ist die „Schaltstelle zwischen der
erlebten und der gedeuteten Wirklichkeit... Erfahrung des Menschen
bietet ihm den Weg, Konflikte zu bewältigen" (121, 115).
Die genetische Beratung muß an der Lebenserfahrung der Ratsuchenden
ansetzen und die neue, dem oft kontrastierende Erfahrung
von Krankheit und Behinderung dazu in Bezug setzen.
Die „Kontrasterfahrung" (140) soll eine neue „Sinnerfahrung"
(141) erschließen und zu neuem Entscheiden und Handeln
motivieren, auch gegen das bisherige Lebenskonzept und die
gesellsehftlichen Konventionen und Zwänge (176, 181, 196).
Die Autorin schlägt zu Recht vor, das Erfahrungspotential von
Selbsthilfegruppen fruchtbar zu machen (168), zeigt aber nicht
die Problematik dieses Weges und die dahingehenden, aber
meist gescheiterten Versuche auf (vgl. U. Eibach, Gentechnik -
der Griff nach dem Leben, 2.Aufl. 1988, S. 136ff.; K. Zerres u.
R. Rüdel [Hrsg.], Selbsthilfegruppen und Humangenetiker im
Dialog, 1993). Auch wird die Ambivalenz des Begriffs „Erfahrung
" - wie die des Begriffs „Konflikt" - nicht genügend herausgestellt
. Erfahrung erschließt nicht nur, sondern verschließt
auch Sinn und lähmt oft ethisches Entscheiden und Handeln.
Angesichts schwerer Leiderfahrungen kann Handeln oft nur aus
der geglaubten Wirklichkeit des unsichtbaren Sieges Gottes
über das zerstörerische Leiden und gegen die Erfahrung der vor
Augen liegenden sinnlosen Wirklichkeit des Leidens entspringen
(vgl. Rö 8,18ff.).

Die Autorin hat die zentrale Bedeutung der Beratung für die
ethische Bewältigung der Konflikte, die aus der genetischen
Diagnostik resultieren, gut dargestellt, und zwar auf der Basis
der Autonomie des ethischen Subjekts, die keine Beliebigkeit
ethischen Entscheidens impliziert. Der Rez. hätte sich aber gewünscht
, daß - vielleicht anstelle ausführlicher Darlegungen
der Konflikt- und Entschcidungslheorien - die Vermittlung
ethischer Einsichten in die konkrete Beratungspraxis - auch
anhand von Beratungsbeispielen - deutlicher herausgearbeitet
worden wäre. Zu fragen ist auch, ob trotz der vorgeschlagenen
ethischen Strukturicrung des Beratungsprozesses der einzelne
Mensch mit so konflikthaften Entscheidungen nicht doch meistens
überfordert bleibt und dann letztlich dem folgt, was ihm
als der leichtere Weg erscheint und was auf der Linie der herrschenden
gesellschaftlichen Vorstellungen von einem glücklichen
Leben liegt. Zu bedauern ist auch, daß die kath. Autorin
Arbeiten evangelischer Ethiker überhaupt nicht berücksichtigt
hat.

Bonn Ulrich Eibach