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Ausgabe:

1995

Spalte:

923-924

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Simpfendörfer, Gottfried

Titel/Untertitel:

"Jesu, ach so komm zu mir" 1995

Rezensent:

Walter, Meinrad

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Seite 1

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 10

924

schränken sich die Renaissanceformen meist auf den Baudekor,
während der Raum selbst mit seinem Rippengewölbe, den spitz-
bogigen Portalen und Fenstern dem Sakralgefühl der Gotik verhaftet
bleibt. Man spricht von einer „Nachgotik", die schließlich
erst im Barock von dem neuen Stil aufgesogen wird.

746 Anmerkungen, ein ausführliches, nach den Kapiteln
unterteiltes Literaturverzeichnis, sowie Orts- und Personenregister
vervollständigen das Buch. 246 Schwarzweißbilder, Grundrisse
und Schnitte sind im Text verteilt. Es ist N. gelungen, die
komplexen Zusammenhänge des gotischen Kirchenbaus in
immer wieder neuen Verknüpfungen und Betrachtungsweisen
so weit wie möglich zu klären und Bekanntes und weniger
Bekanntes überzeugend zu vereinen. Dabei hat er neben den stilistischen
, landschaftlichen und nationalen Wurzeln auch politische
und wirtschaftliche Ereignisse hinzugezogen. Das Buch
muß im Zusammenhang gelesen werden und kann nicht einfach
als Nachschlagewerk benutzt werden, da sich nur dann die
Gedankengänge des Vf.s nachvollziehen lassen.

Wernigerode Helga Neumann

Simpfendörfer, Gottfried: „Jesu, ach so komm zu mir".

Johann Sebastian Bachs Frömmigkeit im Spiegel seiner Kantaten
. Berlin-New York: de Gruyter 1994. IX, 306 S. gr.8° =
Arbeiten zur Praktischen Theologie, 5. Lw. DM 128,-. ISBN
3-11-013772-0.

Diese Heidelberger Dissertation befaßt sich mit dem geistlichen
Vokalwerk Bachs unter der bislang noch nicht systematisch
erörterten Fragestellung, wie Bach die von ihm vertonten Texte
in seiner Komposition mittels Wiederholungen u.ä. (um-)ge-
staltet. Folgende Möglichkeiten der „Textbehandlung" sind
hierbei anzutreffen: „1. Einzelne Worte bzw. Wendungen werden
vervielfacht. 2. In Themen (Fugenthemen, Kontrasubjekten
, Motiven) werden Worte vervielfacht. 3. Ein Text wird sukzessive
vertont. 4. Innerhalb einer Choralbearbeitung werden
einzelne Choralzeilen durch besondere Behandlung herausgestellt
. 5. Einzelne Worte werden aus dem Zeilenzusammenhang
gerissen und isoliert wiederholt, häufig auf unbetonten Zählzeiten
, mittels Sprüngen in exponierte Lagen. 6. Bach bildet neue
Texte. 7. Bach ändert im Laufe der Komposition Texte ab. 8.
Textzeilen werden anders geordnet. 9. Texthälften werden miteinander
vertauscht (Inversion). 10. Teile zweier Textzeilen
werden zu einer zusammengezogen" (12). Etwas verkürzt kann
man die Fragestellung des ersten Teils dieser Arbeit auch so
umreißen: Wie liest sich der Text in der Partitur, im Unterschied
zu einer Textausgabe? Ein zweiter, weitaus kürzerer Teil
der Arbeit zieht aus diesen Beschreibungen dann theologische
Konsequenzen, die auf Bachs persönliche Theologie und Frömmigkeit
abzielen, deren lutherische Prägung der Vf. in den Mittelpunkt
stellt.

Eine Rezension dieser Arbeit kann ich nur mit einigen kritischen
Anmerkungen und Rückfragen vornehmen.

1. Der Stil ist extrem aufzählend. Im ersten Teil (15-245) folgen Hunderte
von Beispielen direkt aufeinander. Hätte hier der analytische Zugriff
nicht stärker in die Tiefe (anstatt in die Breite) gehen müssen? Der Vf.
beschreibt Bachs Verfahren fast stereotyp mit den Worten „Hervorheben".
„Akzentuieren", „Herausstellen" und „Intensivieren". Diese Deutung bleibt
aber zu formal und beantwortet nicht die entscheidende Frage nach dem
musikalischen Wie? Häufig wird nur das verbalisiert und paraphrasiert, was
sich bereits beim ersten Blick in die Partitur zeigt, und zwar in einer theologisch
überaus unpräzisen Sprache. Ein Beispiel für viele (zum Schlußabschnitt
von BWV 97/1 „In allen meinen Taten"): Bach „unterstreicht" durch
diesen Anhang mit andersartiger Satzstruktur den „Vorrang Gottes vor den
Menschen. Sie bleiben auf ihn angewiesen" (84). Ist das Theologie?

2. Die Arbeit ist extrem werk- und näherhin textimmanent. Mit Ausnahme
von Mariane von Ziegler, deren Texte Bach bisweilen stark verändert
hat, wird das theologische Profil der jeweiligen Textautoren ebensowenig

berücksichtigt wie die Einordnung der jeweiligen Kantaten in Bachs Schaffensperioden
. Und auch der theologische Kontext der Predigt- und Erbauungsliteratur
findet kaum je Erwähnung. Solche .Kontexte' wären aber für
die Einzeldeutungen der Bachschen Textgestaltung mitunter sehr hilfreich
gewesen.

3. Der Vf. isoliert einen Aspekt des Bachschen Komponierens. Das isl
legitim, führt aber zu Überinterpretationen und Verzeichnungen, weil der
konkrete musikalische Kontext, in dem dieses Verfahren (notwendigerweise
!) stattfindet, nicht genügend berücksichtigt wird. Die (Um-)Gestaltung
des Textes (ohne die aus einem Arientext gar keine Arie werden kann) ist ja
nur eine Dimension des Bachschen Komponierens. Eine nähere Qualifizierung
der Ergehnisse müßte jeweils die Musik viel stärker berücksichtigen,
als es hier geschieht. Ist es überhaupt sinnvoll, mit einer solch eingeschränkten
Fragestellung, die ja (fast) nur den Text erreicht, an Bachs Vokalwerk
heranzugehen? Ist Komposition nicht mehr als „Textbehandlung"?

4. Insbesondere aus den Rezitativen wäre einiges zu ergänzen, etwa zum
Abschnitt II/3 (sukzessive Vertonung) das „wachsende Zitat" in BWV 60/4
„Selig sind die Toten".

5. Nicht befriedigen können die „Theologischen Ergebnisse" der vorliegenden
Arbeit, weil das, was bereits in den Texten steht, und das, was
Bachs Komponieren dann „intensivierend" daraus macht, hier zu kurz-
schlüssig mit Bachs persönlicher Frömmigkeit identifiziert wird. Die Eckdaten
lutherischer Theologie, die mit den Stichworten .sola scriptum'.
.Exklusivität Gottes bzw. Christi', .sola gratia' usw. markiert werden,
mögen stimmen. Aber für welche Werke der evangelischen Kirchenmusik
gilt das nicht? Insgesamt fehlen also nähere Differenzierungen. Sätze wie
„Von Gott hat Bach ein positives Bild" (263) werden weder die theologische
Bachforschung weiterbringen noch das dringend notwendige interdisziplinäre
Gespräch zwischen Musikwissenschaft und Theologie fördern.

6. Völlig unbefriedigend scheint mir auch der Exkurs zur Mystik (275ff).
Ausgehend von den Thesen Albert Schweitzers (.pro Mystik') sowie der
eher .mystik-kritischen' Dissertation von Wolfgang Herbst aus dem Jahr
1958, aber unter Mißachtung neuerer Arbeiten (ich nenne nur Walter Blankenburg
, Mystik in der Musik J. S. Bachs, in: Theologische Bach-Studien I.
Neuhausen-Stuttgart 1987) wird hier ein völlig unzureichendes Vorverständnis
von Mystik exponiert, um dann auf S. 281 (in Anm. 82) zum
Ergebnis zu kommen „...rät es sich, in Bezug auf Bach auf den Begriff
.Mystik' überhaupt zu verzichten, weil er einfach irreführend ist." So einfach
ist das nicht, denn die S. 277ff aufgezählten und in ihrer .mystischen'
Tendenz interpretierend .entschärften' Beispiele können das Fazit S. 280
(„Durch seine Textbehandlung akzentuiert Bach in den meisten Fällen die
mystischen Elemente seiner Vorlagen gerade nicht") keinesfalls belegen.
Der Vf. bestimmt hier willkürlich, welche Aussagen dieser Werke „zentral"

(278) sind und welche nicht, worauf es Bach ankommt und worauf nicht

(279) . Und die Musik als konkreter Ort jeder solcher ..Textbehandlung"
zieht er dazu überhaupt nicht in Betracht! Eine solche Hermeneutik wird
niemals zu einem Gesamtbild von Bachs Frömmigkeit führen; sie führt eher
zu Falsch- und Überinterpretationen. Sie ist theologisch unhaltbar und
musikwissenschaftlich leider unergiebig.

7. Speziell die .Praktiker' (die Arbeit erscheint in einer praktisch-theologischen
Reihe) hätten sich ein Register gewünscht. Auf manchen Seiten
werden mehr als 20 Werke Bachs ohne Angabe der Titel, also nur mit der
BWV- und Satz-Nr. erwähnt. Sinnstörende Druckfehler finden sich z.B. auf
den S. 66, 156. 186.215.

Freiburg Meinrad Walter

Mühlberger, Sigrid, u. Margarete Schmid: Verdichtetes Wort.

Biblische Themen in moderner Literatur. Innsbruck-Wien:
Tyrolia 1994. 176 S. 8». Kart. öS 248.-. ISBN 3-7022-1962-5.

In diesem Buch sind literarische Kurztexte zeitgenössischer
Autorinnen und Autoren zusammengestellt, von denen 12 Texte
dem Alten Testament, 8 dem Neuen Testament und 14 dem Kirchenjahr
zugeordnet wurden. Namen wie J. Bobrowski, Ch.
Busta, B. Brecht, G. Bydlinski, H. Domin, R. Kunze, N. Sachs,
M. L. Kaschnitz, E. Zeller u.a. lassen die Vielfalt der berücksichtigten
literarischen Strömungen erkennen. Die Texte sind
mit Interpretationshinweisen und Kurzbiographien versehen.
Am Schluß stehen didaktische Hinführungen zur Erschließung
der Texte für die Arbeit in der Erwachsenenbildung und in
Schulen. Einige Illustrationen sollen der Meditation und der
kreativen Weiterarbeit dienen.

_ E. W.