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Ausgabe:

1995

Spalte:

912-914

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

González, Justo L.

Titel/Untertitel:

Mañana 1995

Rezensent:

Prien, Hans-Jürgen

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91 I

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 10

912

,Ich' steigt aus dem Endlichen zum Unendlichen empor mit
dem Ziel der Einung mit dem ,alles'. Nachdem der Heilige
Geist, ausgehend vom Vater als Aufklärung, und vom Sohn als
Reinigkeit, den menschlichen Verstand als Allgütiger ergriffen
hat, beherrscht diese Teilhabe am ,alles' das Denken (§ 82) wie
auch die Existenz des Menschen (§ 91)." (These 14, 342) Der
Vf. begreift die E.d.M. als das theologische System Lessings -
und übersieht dabei die Grundstruktur des Fragens, des Entwer-
fens. des Prüfens, die Lessings theologisch-philosophische Entwürfe
auszeichnet.

Methodisch bemüht sich der Vf., den Text der E.d.M. ganz
aus sich selbst zu verstehen. Eine Auswahl aus der Sekundärliteratur
wird knapp referiert und kritisiert - bei der Einzelinterpretation
spielt sie keine Rolle mehr. Der theologiegeschichtli-
che Kontext der Arbeiten Lessings wird ebensowenig erkundet
wie der Stellenwert dieser Skizze innerhalb des Fragmentenstreits
. Auch eine Auseinandersetzung mit Spinoza oder Leib-
niz oder Moses Mendelssohn findet nicht statt. Dagegen wird -
um der sprachlogischen Textanalyse willen - auf die Metaphysik
Francis Bacons zurückgegriffen (vgl. 34ff.), weil sie die
Relevanz der Transzendenzkonditionen dargestellt hat. die in
Lessings Texten offenbar beachtet wurden.

Der Vf. arbeitet also unter der Voraussetzung, daß ein solch
programmatischer Text ganz aus sich selbst erschließbar sein
müsse - wenn nur genau genug die Bezüge und Bedeutungsnuancen
jedes Satzteils abgeklopft werden. Am Schluß wird das
Ergebnis in Tabellenform zusammengefaßt, so daß die 2
Bezugsgrößen, die Transzendenzkonditionen, der theologische
Gehalt, die Denkform und die Denksubstanz jedes Satzteils aufgeschlüsselt
sind.

Die Entscheidung, dies Verfahren zunächst nur an den SS l-
25 zu demonstrieren, erschwert die Lesbarkeit des Buches sehr:
Wenn die E.d.M. als System begriffen und daher erst in ihrer
Gesamtheit verständlich wird, muß eigentlich viel öfter, als es
faktisch geschieht, vorgegriffen werden auf spätere Paragraphen
. Die Thesen Qu.s von 1981 geben diesen Gesamtüberblick
- machen aber damit deutlich, wie vorläufig die Ergebnisse
zum ersten Viertel der Schrift sein müssen.

Lessing hatte den ersten Teil mit den §§ 1-53 voraus veröffentlicht
- wahrscheinlich aber nur mit der Absicht anzudeuten,
daß er religionsphilosophisch mehr zu sagen habe, als er in den
„Zusätzen des Herausgebers" den Fragmenten selbst mitgeben
wollte. Helmut Thielicke hatte die Diskrepanz, zwischen den
Aussagen der S§ 4 und 77 zum Angelpunkt seiner Deutung
gemacht - das hat der Vf. weder als Problem notiert, noch in
seiner eigenen Analyse des § 4 der Beantwortung für wert
befunden. Die scheinbare Genauigkeit der Wortinterpretation
führt mehrfach zu Sinnentstellungen, die sich zu Fehlern der
Interpretation auswachsen: Wenn das Wort „alles", das etwa in
dem Augustinzitat des Mottos nur die Summe des Gesagten
meint, metaphysisch interpretiert wird als das „alles" im Sinne
der Formel des „ev eyw xai Jiäv", wird die Interpretation
unbrauchbar. Gleiche Entstellungen kommen bei dem Wort
„ein" und „allein" vor. - Die anspruchsvolle Kategorie der
„Denkformen" wird ohne philosophiegeschichtliche Kenntnis
angewandt: das „Geschichtliche" kommt nur in der Form der
Aktualisierung zur Geltung (293) - ohne daß bemerkt wird, daß
die ganze Schrift Lessings eine Theorie der an sich kontingen-
ten Religionsgeschichte sein will. Als „Denkform der Ethik"
wird ein „utilitaristisch-ethischer Grundzug" (289) bezeichnet,
obwohl es sich in Wirklichkeit um die Zielsetzung der Pädagogik
, die Ausbildung der reinen Humanität, handelt.

Nach welchen Kriterien die Auswahl der Sekundärliteratur
erfolgt ist, ist nicht erkennbar. Neuere Interpretationen werden
Ubersehen - sowohl zum Jacobi-Gespräch (vgl. z.B. die Publikation
der Martin-Luther-Universität Halle „Lessing und Spinoza
", 1982 hrsg. von Thomas Höhle, über ein Kolloquium im

Gleimhaus zum 200jährigen Gedenken an die Begegnung Lessings
mit Jacobi in Halberstadt) wie zur E.d.M. wie auch zum
Denk- und Sprachstil Lessings (vgl. u.a. Leisegangs grundlegende
Studie über Lessings Weltanschauung. Schilsons Arbeit
„Geschichte im Horizont der Vorsehung", 1974, und Ingrid
Strohschneider-Kohrs, „Vernunft als Weisheit. Studien zum späten
Lessing." Tübingen 1991).

Wer sich dem Diskurs nicht aussetzt, gerät in die Gefahr der
Selbstisolierung. Wissenschaftlich schlechthin unvertretbar ist
aber der Verzicht auf die Berücksichtigung der Theologie und
der Philosophie der Aufklärung. Begriffe, Denkformen, theologische
oder philosophische Thesen können nicht ohne ihren Kontext
verstanden werden.

Hat der Vf. das Fragment des Reimarus über die „Unmöglichkeit einer
Offenbarung, die alle Menschen auf eine gegründete Art glauben können",
nicht gelesen oder in seiner Schärfe und als Dokument einer tiefen Glaubenskrise
nicht begriffen? Lessing und seine Zeitgenossen haben nicht nur Uber
die Unterschiede zwischen der griechisch-römischen einerseits und der israelitischen
Religion andererseits diskutiert, sondern sich der ['rage gestellt, welches
Schicksal die Millionenvölker Asiens in Gottes Heilsökonomie haben
da sie doch den Gott Israels ebensowenig wie den Vater Jesu Christi haben
kennenlernen können! Lessings Versuch, trotz aller Kontingenz der
Geschichte einen Erziehungs-, d.h. einen Heilsplan Gottes zu denken, ist
nichts weniger als der Versuch einer Theodizee der Religionsgeschichte. Lessing
unternimmt das Experiment, den exklusiven Offenbarungsbegriff der
klassischen Theologie aufzubrechen, indem er spekulativ Offenbarung als
Erziehungsinstrument deutet - und damit die ungeschichtlich argumentierende
rationalistische Religionskritik des Reimarus beantwortet.

Es rächt sich, daß der Vf. anscheinend die klassischen theologiegeschichtlichen
Darstellungen über diese Epoche (Karl
Aner, Emanuel Hirsch) nicht zur Kenntnis genommen hat: So
gerät er ständig in die Gefahr, „Offenbarung" und „Vernunft"
auf der Basisgegenwärtiger Theologie zu deuten. Lessings experimentierendes
Denken erschließt sich aber nicht, indem man
es zum System-Entwurf hochstilisiert, sondern indem man den
Dialog-Gestus seiner Sprache begreift.

Magdeburg Harald Schultze

Kirchen und Konfessionskunde

Gonzalez. Justo L: Mamma. Theologie aus der Sicht der
Hispanics Nordamerikas. Aus dem Amerik. übers, von A. u.
H.-W. Gensichen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
1994. 162 S. gr. 8« = Theologie der Ökumene, 25. Kart. DM
38,-. ISBN 3-525-56329-9.

Der kubanische Kirchenhistoriker Gonzalez ist von Haus aus
Methodist. Er hat an der Universität von La Habana, dem Union
Theological Seminary, der Yale Universität sowie in Straßburg
und Basel studiert. Gonzalez hat u. a. eine Weltgeschichte der
Mission (Historia de las Misiones, Buenos Aires 1970) und eine
Christentumsgeschichte der spanischsprachigen Karibik (The
Development of Christianity in the Latin Caribean. Grand Ra-
pids 1969) vorgelegt. Er lehrt gegenwärtig in den USA und hat
sein Werk bewußt nicht in der Muttersprache der ca. 20 Mill.
Hispanics in den USA - so nennt er die lateinamerikanischen
Einwanderer des 20. Jh.s im Unterschied zu den vor der US-
Annexion der mexikanischen Gebiete dort lebenden Hispatios
und ihren heutigen Nachkommen -, sondern in Englisch abgefaßt
, um über den Kreis der Hispanics hinaus Anliegen und Perspektiven
zu verdeutlichen, die jene „mit den Schwarzen, den
Frauen und anderen unterprivilegierten Gruppen gemeinsam
haben" (27).