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Ausgabe:

1995

Spalte:

910-912

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Titel/Untertitel:

§§ 1 - 25 1995

Rezensent:

Schultze, Harald

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909

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 10

910

Leitbilder aufstiegen. Fragen der im Detail noch wenig erschlossenen
Lavaterrezeption gehen zwei weitere Beiträge
nach: A. Ohage untersucht die Rolle des Lavaterfreundes J. G.
Zimmermann in Hannover im Prozeß der Distanzierung Lichtenbergs
von L. E. Shookman erörtert verschiedene Gründe für
die Popularität der Lavaterschen Physiognomik, die sie in ihrem
Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, in der sozialen Anziehungskraft
einer gesellschaftlichen Mode und in der Art und
Weise findet, wie sie in die deutsche Literatur aufgenommen
wurde. Als fruchtbare Beispiele für letztere werden Wielands
Auseinandersetzung mit L. über die Schönheit der griechischen
Kunst und der Einfluß auf Leasings „Nathan" angeführt.

Auch für den Psychiatriehistoriker ist L. von Interesse. H. A.
Walser weist auf die Anstöße hin. die L. der physiognomischen
Forschung an Geisteskranken und der psychiatrischen Ikonographie
(..Irrenporträts") gab. Durch seine Beschäftigung mit
dem sog. tierischen Magnetismus (Hypnose) trug er dazu bei,
daß diese Therapieform nicht in Vergessenheit geriet.

Die Beiträge des dritten Hauptteils greifen L.s Verhältnis zu
Zeitgenossen auf. K. Pestalozzi zeichnet die Freundschaft mit
Goethe unter der Perspektive von Lavaters Hoffnung auf Goethe
als geisterfüllten, christusförmigen modernen Apostel nach,
wie sie sich im Kontext lebendiger Endzeiterwartung an der
geistlichen Rollenprosa des jungen Goethe, u. a. dem ..Pastorbrief
" von 1773. entzündete.

Mit J. J. Heß. bekanntgeworden durch seine biblischen Geschichtswerke
, stellt F. Ackva einen der Freunde und Kollegen
L.s in Zürich vor. In drei Phasen wird die Differenz zwischen
L.s eschatologischem, mit der Sehnsucht nach Transzendenzerfahrung
verbundenen Denken und Heß' Konzentration auf die
biblische Offenbarungsgeschichte gezeigt. Erst nach L.s Tod
fand Heß Anschluß an das eschatologische Denken L.s. nun
aber auch offen für Jung-Stillings Apokalypseauslegung. Dem
zeitlebens von gegenseitigem Interessse und Distanz geprägten
Verhältnis Lavater - Pestalozzi geht P. Stadler nach, das wegen
lückenhafter Überlieferung auf manche Vermutungen angewiesen
bleibt. Erwähnenswert sind eine frühe Phase der Zusammenarbeit
in der Herausgabe einer Zeitschrift („Der Erinnerer"
1765/66), eine wohl von L. stammende gründliche Besprechung
des Erziehungsromans „Lienhard und Gertrud" und Kontakte aus
politischem Anlaß, die sich in der Spätzeit L.s intensivierten und
auch zur Diskussion über Erziehungsfragen führten.

L.s altaufklärerischen, stadtrepublikanisch geprägten Patriotismus
, der weder kühne Predigten scheute noch der politischen
Verfolgung entging, bildet den Rahmen für die Analyse der
„Schweizerlieder" durch U. Im Hof. Geschichtsbild, Ideologie
des Schweizerbundes und republikanisches Bewußtsein, Arbeitsethos
. Luxuskritik und Tugend als Inbegriff des Patriotismus
kommen zur Sprache, ebenso L.s Verpflichtung gegenüber
dem politischen Wächteramt des Predigers.

Das Problem der Todesstrafe bringt P. Walser-Wilhelm anhand
von L.s Auseinandersetzung mit J. v. Müller aus Anlaß
der sich zum Justizskandal ausweitenden Hinrichtung des Theologen
und Publizisten J. H. Waser in Zürich 1780 zur Sprache,
welche Lavater verteidigte.

Ein letzter instruktiver Beitrag aus der Hand E. Heiers verfolgt
L.s Spuren im geistigen und kulturellen Leben Rußlands des 18.
und 19. J.s. Lavater besaß vor allem aufgrund seiner religiösen
Schriften hohes Ansehen bei den Moskauer Freimaurern. Er
stand im Briefwechsel mit deutschen Dichtern im Zarenreich
(E. von der Recke. Lenz u. a.) und, weniger bekannt, mit dem
Großfürsten und späteren Zaren Paul [. (reg. 1796-1801), den L.
1782 kennengelernt hatte. Der spätere Einfluß der L.schen Physiognomik
weist wiederum in den Raum des Literatur (literarisches
Porträt), für die Balzac eine wichtige Vermittlungsrolle
spielte. Daneben sind auch eigenständige wissenschaftliche Auseinandersetzungen
mit der Thematik festzustellen.

Insgesamt gibt der Sammelband eine Menge Anregungen für
die weitere Forschung. Vor allem stellt er die Aufgabe, die verschiedenen
Interpretationsansätze etwa im Religions- und Wirk-
lichkeitsverständnis über den Texten enger miteinander ins Gespräch
zu bringen - wenn auch notgedrungen wohl noch lange
ohne Lavater-Gesamtausgabe. Schließlich dürften weitere
Untersuchungen zum Freundeskreis - es sei aus dem näheren
Umfeld nur an J. K. Pfenninger erinnert - auch den Blick auf L.
schärfen.

Tübingen Hans-Martin Kirn

Quapp, Erwin: Lessings Theologie statt Jacobis ,Spinozis-
mus'. Eine Interpretation der „Erziehung des Menschengeschlechts
" auf der Grundlage der Formel „hen ego kai pan".
Bd. I. 1-25. Bern-Berlin-Frankfurt/M.-New York-Paris-
Wien: Lang 1992. 367 S. 8°. Kart. DM 98,-. ISBN 3-261-
04501-9.

Vielleicht hätte die Forschung schon längst davon abgelassen,
nach Lessings Gottesverständnis zu fragen, wenn sich Lessing
einliniger, klarer, weniger dialogisch-experimentierend geäussert
hätte. Dann wäre es aber auch weniger spannend, den „Fingerzeigen
" nachzugehen, die er in die Religionsphilosophie der
Spätaufklärung und des Neuprotestantismus eingebracht hat.
Die beträchtlichen Spannungen, ja Differenzen innerhalb der
Spätschriften Lessings einerseits (den Beiträgen im Fragmentenstreit
, dem „Nathan", der „Erziehung des Menschengeschlechts
" = E.d.M.) und andererseits dem Bericht Friedrich
H. Jacobis über sein Gespräch mit Lessing (in Gleims Gartenhaus
im April 1780) führen zu immer neuen Interpretationsversuchen
.

Erwin Quapp hat sich diesem Fragenkreis seit langem zugewandt
, eine Thesenreihe bereits 1981 auf dem Wiener Theologentag
vorgetragen. Jetzt ist ein I. Band seiner Studien zur
E.d.M. erschienen. Er sieht einen wesentlichen Grund der Unsicherheiten
der sog. Spinozismus-Debatte darin, daß bisher eine
wirklich sachgerechte Interpretation der E.d.M. fehle. Um dafür
eine zureichende Basis zu bieten, legt der Vf. eine fast Wort für
Wort abtastende Analyse der ersten 25 Paragraphen der E.d.M.
vor; daß er zugleich über eine Gesamtschau verfügt, die wohl
noch gleichermaßen präsentiert werden soll, ergibt sich aus den
Beilagen dieses I. Bandes. Die bereits 1981 vorgetragenen Thesen
/eigen das theologische Konzept auf.

Wer die intensive, sehr kontroverse Arbeit an der Erschliessung
jener kleinen religionsphilosophischen Schrift Lessings
kennt - sie reicht weit ins letzte Jh. zurück -, wird gespannt sein
auf einen neuen Diskussionsbeitrag. Qu. sichtet das sog. Spino-
/isinus-Gespräeh - mit starker Skepsis gegenüber der Verläßlichkeit
der Wiedergabe Jacobis. Mit A. Altmann korrigiert er,
nach einer Angabe von Herder, das vielbeschworene „ev xai
Jiäv" in die authentische Originalfassung zurück, wie sie Lessing
auf die Tapete des Gleimschen Gartenhauses geschrieben
hatte: „ev eyco xcd jtäv" - und deutet diese Losung in einem
trinitätstheologischen Sinn, den er aus der E.d.M. erheben zu
können meint. Das „Eins bin ich und alles" erschließe sich in
einer Entwicklung des Bedeutungsgehalts der Begriffe: „Das
Herabsteigen des ,alles' und die Mitteilung des .alles' an ein
ein/eines Volk (die Juden), an einen Menschen (den Sohn) und
an den .Verstand' (s. die §§ 22; 73; u. 80) erweisen sich als ein
Herausarbeiten dessen, womit Gott seine Absichten hat auf das
ganze Menschengeschlecht (§ 22), auf die griechisch-römische
Welt (§ 54 u. § 56) und auf jeden einzelnen Menschen (§ 93)."
( fliese 10, 341f.) Die E.d.M. wird also ganz im Sinne der klassischen
, spekulativ interpretierten Heilsökonomie gelesen: „Das