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Ausgabe:

1995

Spalte:

907-910

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Titel/Untertitel:

Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen 1995

Rezensent:

Kirn, Hans-Martin

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 10

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'rühmt gewordenen Brief an Admiral Hollmann, den stellvertretenden Vorsitzenden
der Orientgesellschaft, zugunsten einer „Weiterbildung der Religion
" ausgesprochen. Er dachte sie sich in Richtung einer Preisgabe des
orthodox-biblizistisch verstandenen Offenbarungsglaubens (der durch
Delitzsch widerlegt sei) bei Festhalten an einem pietistischen Jesuanismus
verbunden mit einer revelatio generalis in Schöpfung und Geschichte. Wie
sehr Delitzsch hier nur der Anlaß war, vielmehr H. St. Chamberlain bis in
die Formulierungen hinein Pate gestanden hatte, wird hier nach M. Bucher
1929 und Jean Real 1951 erneut aufgewiesen.

Zu den wichtigen Abgrenzungen, die in dieser Arbeit vollzogen
werden, gehört einerseits die der Position von Delitzsch
gegenüber dem Panbabylonismus Peter Jensens mit seiner methodisch
höchst problematischen Auswertung des Gilgamesch-
Epos (159-170) und andererseits die gegenüber H. St. Chamberlain
. Daß es schließlich doch zu einer sachlichen Annäherung
an diesen kam, ist dem (vom Vf. erstmalig aufgewiesenen)
Einfluß des völkischen Pädagogen Wilhelm Schwaner (1863-
1944) zu danken, dessen aus der volkserzieherischen Lebensreform
erwachsenen Gedankenwelt, die in der Germanenbibel
kulminierte, Delitzsch in seiner Spätzeit weitgehend verfiel. So
mündet das Denken des Friedrich Delitzsch, der seinen Ruhm
der Keilschriftforschung, seine Publizität dem Babel-Bibel-
Streit verdankt, schließlich in den Hauptstrom eines völkischen
Antisemitismus ein.

Der Nachweis der irritierten und irritierenden Reaktion jüdischer
Stimmen, die mehrheitlich die Destruktion des christlichen
Offenbarungsglaubens begrüßten, vereinzelt jedoch die
gefährlichen Aspekte der im liberalen Lager so positiv aufgenommenen
Positionen von Delitzsch wenigstens ahnten, gehört
zu den Glanzlichtern einer Arbeit, die nach Jahrzehnten als das
Schlußwort zu einer der problembeladenen Episoden des geistig
öffentlichen Lebens einer vergangenen Epoche gelten kann.

Halle (Saale) Wolfgang Wiefel

Pestalozzi. Karl, u. Horst Weigelt [Hrsg.]: Das Antlitz Gottes
im Antlitz des Menschen. Zugänge zu Johann Kaspar Lava-
ter. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994. 355 S. m.
Abb. gr.8° = Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 31. Lw.
DM 138,-. ISBN 3-525-55815-5.

Der Sammelband vereinigt Referate, die auf einem Symposion
aus Anlaß der 250. Wiederkehr des Geburtstages von Johann
Kaspar Lavater im November 1991 in Zürich gehalten wurden.
Die zwanzig Beiträge bieten einen reichhaltigen Einblick in die
Vielzahl der nicht zuletzt durch den editorischen Übelstand erschwerten
Zugangsweisen und Interpretationsansätze zu Leben,
Werk und Wirkung des „Herzensgenies", das schon die Zeitgenossen
teils faszinierte, teils abstieß.

Nach einer Einführung von M. Wekrli zu Lavater im Rahmen
der geistigen Gesamtsituation Zürichs eröffnet G. Ebelings Beitrag
die Reihe zum ersten Hauptteil, der L. als Theologen vorstellt
. Ebeling profiliert L.s Denken mit Hilfe des Geniebegriffs
in seiner doppelten Ausprägung als genius saeculi (Zeitgeist u.
ä.) und Person-Genie. Im kritischen Gegenüber zur Zeit erweist
sich die Glaubensgewißheit mit ihrem spezifischen Interesse an
erfahrbarer Wirklichkeit als zentrale Frage, der ästhetische Geniebegriff
erfährt im „Genie des Herzens" eine fundamentalreligiöse
Umformung. Insgesamt bot L„ der die metaphysische
Erkenntnis ganz an die erfahrungsgesättigte Christusgemeinschaft
delegieren wollte, die Stärken und Schwächen einer
„theologiescheuen Theologie", die durch ihre intensive Frage
nach der Glaubensgewißheit eine Herausforderung bleibt.

Einen anderen interessanten, von E. Levinas inspirierten Ansatz
verfolgt K. Huizing. der den Physiognomiker L. als „Kirchenvater
" einer angesichts der gegenwartsflüchtigen und sinnenängstlichen
Tendenzen universalgeschichtlicher und keryg-

matisch-hermeneutischer Theologiekonzepte dringlich gewordenen
Hinkehr zu einer Gestalttheologie entdeckt, welche die
Präsenz Christi bzw. Gottes auf dem Antlitz des Nächsten neu
zu bedenken hat. Bei L. findet Huizing als systematisch epochale
Leistung eine physiognomisch-ästhetisch begründete Religionstheorie
skizziert, die in bestimmter Hinsicht auf Schleiermacher
, Fries und de Wette vorausweist. Eine auf Anschauung und
Gefühl gegründete Religion verlangt demnach den physiogno-
mischen Gottesbeweis - in der ihm eigenen Rationalität. Am
Rande ergeben sich beachtliche Berührungspunkte mit der orthodoxen
Ikonenfrömmigkeit.

H. Weigelt geht in seinem Beitrag Aspekten des Frömmigkeitsverständnisses
bei L. nach, legt die vielfältigen Kontakte zu
anderen „Frommen" vornehmlich spätpictistischer und erweckli-
cher Kreise dar und erhebt L.s kritische Einstellung gegenüber
bestimmten Formen weitabgewandter, skrupulöser und dogmati-
stisch regulierter Frömmigkeit. Vermißt wird eine nähere theologische
Klärung der Kriterien christlicher Spiritualität.

In die theologische, allerdings plakativ bleibende Frontstellung
gegenüber dem sog. Deismus führt R. Dellsperger anhand
Lavaters Synodalrede von 1779 ein. Geisterkunde und Apoka-
tastasis-Rezeption bei L. und Jung-Stilling erörtert S. Shimbo.
Schon in L.s Frühschriften finden sich Elemente des origenisti-
schen Apokatastasisgedankens, wie er auch für Jung-Stilling
tragend wurde und in den letzten Jahren der Freundschaft eine
Intensivierung erfuhr.

G. Luginbiihl-Weber versucht auf dem Hintergrund der Positionen
L.s. Mendelssohns und Bonnets in der Unsterblichkeitsdebatte
des 18. J.s eine Neuinterpretation der bekannten, bislang
als Aufforderung zur Konversion gedeuteten Widmung L.s
an Mendelssohn, wie er sie seiner Teilübersetzung der „Philosophischen
Palingenesie" Bonnets 1769 vorangestellt hatte (.....

zu thun,... was Sokrates gethan hätte"). Diese wird nun als
Wunsch L.s interpretiert, Mendelssohn für den Kampf um eine
Stabilisierung des bedrohten Gottes- und Unsterblichkeitsglaubens
auf der Basis von Vernunftwahrheiten zu gewinnen - was
freilich die Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Christusoffenbarung
bei L. erst recht dringlich macht. L.s Predigttätigkeit
in Zürich wird von K. M. Sauer vorgestellt. Er sichtet
die Aspekte Amtsverständnis, Schwerpunkte der Verkündigung
und Hörerbezug, welchem auf der Ebene von Gefühl und Empfindung
eine auffallende Intensität bescheinigt wird.

Ein zweiter Hauptteil des Sammelbandes gilt L. als Physiognomiker
. R. T. Gray geht der Sackgasse nach, in welche ein
unkritisch angeeignetes aufklärerisches Wissenschaftsmodell
die Lavatersche Physiognomik führte. Das im Denken des
Sturm und Drang verwurzelte emanzipatorische Projekt kehrte
sich, da es nach Kriterien empirischer Naturwissenschaft strukturiert
werden sollte, in sein Gegenteil, es trat in den Dienst
einer Verdinglichung des Menschen.

Wandlung und Wirkung der Lavaterschen Physiognomik im
weiteren Zusammenhang divinatorisch-hermetischer Tradition
beschäftigt M. Blankenburg. Modernitätsaspekte lassen sich
demnach nicht nur in L.s Betonung der Allgemeinheit des phy-
siognomischen Gefühls entdecken, sondern gerade auch im
Interesse an wissenschaftlich-mathematischer Verifikation. Die
L.sche Ontologie erwies sich im Blick auf Schattenriß. Umformung
der antiken Temperamentenlehre und morphologische
Ideen (Goethe) als durchaus fruchtbar. Als neue Schule des
Sehens aus pietistischer Wurzel kam die L.sche Physiognomik
vornehmlich im künstlerischen Bereich von Groteske. Karrika-
tur und Satire (Balzac) zur Geltung.

Soziale Aspekte berührt A. Messerli in seinen Ausführungen
zur Bildwürdigkeit der Bauern in den „Physiognomischen Fragmenten
" anhand der Darstellungen der beiden Musterlandwirte
Jakob Gujer (Kleinjogg) und Heinrich Boßhard, die in ihrer
zivilisationskritischen Idealisierung in den Raum erzieherischer