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Ausgabe:

1995

Spalte:

905-907

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Lehmann, Reinhard G.

Titel/Untertitel:

Friedrich Delitzsch und der Babel-Bibel-Streit 1995

Rezensent:

Wiefel, Wolfgang

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 10

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2) Ob J. J. Griesbach einen maßgebenden Vorgänger hatte, der
- soweit bisher ersichtlich - als einziger vor ihm den Titel
.Synopse' für das anstehende Sachanliegen gebrauchte (vgl. auch
D. Wünsch. aaO. 250f.: H. K. McArthur, aaO, 164; F. Neyrinck.
EThL 69. 1993, 1741'.). muß so lange in der Schwebe bleiben, als
das einschlägige Werk, das auch die Vfn. nicht benutzen konnte
(IX u. Anm. 21 ebd.). nicht gefunden ist: M. Georgii Sigelii
Synopsis historiae lesu Christi, quemadmodum eam S. Matthaeus,
Marcus. Lucas desei ipseie. Noribergae in forma tabulae proposi-
ta stndiosis Academiae Altdorfmae, 1583 (so nach G. Draud.
Bibliotheca classica sive catalogus officinalis..., Frankfurt/M.
1611. 105: H. Zedier [Hrsg.]. Grolles vollständiges Universallexikon
, Bd. 37, (Halle) 1743, Sp. 1056; weitere Angaben z.B. bei
D. Wünsch. aaO, 250 Anm. 6-8 passim).

3) Die Vfn. neigt dazu, zu stark moderne wissenschaftliche
Begrifflichkeit auf Einsichten früherer Epochen zu übertragen.
So kann z.B. von .Literarkritik' in dem von ihr verwendeten Sinne
/wischen 1555 und 1774 noch nicht begrifflich und in der
Suche nur sehr zurückhaltend gesprochen werden (vgl. auch TRE
21, 1991, 222ff.).

Fazit: In dieser gelehrten Studie werden überlegt Hinweise für
die notwendige Klärung der Sachfrage geboten, doch die wissenschaftsgeschichtliche
Aufarbeitung der Frühphase des Problems
.Synopse', .synoptische Evangelien' in ihrer historischen Eruierung
und hermeneutischen Bewältigung steht weiter an.

Erlgngen Otto Merk

Lehmann. Reinhard G.: Friedrich Delitzsch und der Babel-
Bibel-Streit. Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag: Göttingen
: Vandenhoeck & Ruprecht 1994. XVI. 444 S. gr.8° =
Orbis Biblicus et Orientalis. 133. geb. sFr 130.-. ISBN 3-
7278-0932-9 u. 3-525-53768-9.

Mit dem Babel-Bibel-Streit, wo immer seiner überhaupt noch
gedacht wird, verbindet sich die Erinnerung an den Orientalisten
Friedrich Delitzsch und an eine Episode in der Geschichte
des Wilhelminischen Deutschlands, die für einen Augenblick
die Bewertung des Alten Testaments und des christlichen
Offenbarungsglaubens in der damaligen bürgerlich-protestantischen
Öffentlichkeit grell aulscheinen ließ. Wie so viele Konstellationen
jener Epoche war sie schon in der Nachkriegszeit
nahe/u vergessen; nur Andeutungen in Biographien und Memoiren
aus dem zweiten Jahrhundertdrittel (von Zahn. Harnack,
■loh. Keßler. Otto Dibelius) ließen den einstmals sensationell
erscheinenden Charakter erahnen. Wer sich Jahrzehnte später
an eine Rekonstruktion wagt, muß doppelt zugerüstet sein: Einmal
geht es nicht ohne Grundkenntnisse der orientalistischen
Wissenschaft, auf derem Felde die Auseinandersetzungen geführt
wurden: nicht minder erforderlich ist der Einblick in die
politisch-geistige Geschichte des Vorweltkriegsdeutschland.
Beide Kompetenzen treffen nur sehen zusammen. Das mag erklären
, warum wir auf eine monographische Bearbeitung dieses
Gegenstandes so lange w arten mußten. Zudem nimmt heute die
Neigung zu. sich aus der Perspektive des Jahrhundertendes dessen
Anfang zuzuwenden, so daß wir nun zwei gleichzeitig, aber
unabhängig voneinander entstandene Arbeiten über dieses Thema
vor uns haben: die 1989 erschienene Marburger Dissertation
von Klaus Johanning, die sich als forschungsgeschichtliche Studie
vorstellte (= EHS 23/343) und die vorliegende, von Diet-
helm Michel in Mainz betreute Arbeit, die schon durch die Voranstellung
des Namens Friedrich Delitzsch stärker die orientalistische
als die theologiegeschichtliche Ausrichtung unterstreichen
will. Sie ist die etwas längere der beiden Untersuchungen
und kann daher auf das parallel gestartete Unternehmen noch
kurz eingehen (17-20).

Das geheime Thema, das wohl jedem, der heute an den Babel-
Bibel-Streit herangeht, sich alsbald aufdrängt, lautet: Haben w ir
es bei dieser Kontroverse mit einer weiteren Facette des intellektuellen
Antisemitismus im Wilhelminischen Deutschland zu
tun? Besorgte Delitzsch durch seine Demontage des Alten Testamentes
beim wissenschaftsgläubigen Publikum ein ähnliches
Geschäft wie beim konservativen Kirchenvolk der Hofprediger
Stöcker, bei den ästhetisierenden Intellektuellen H. St. Cham-
berlain - jeder von ihnen völlig anders geprägt, aber darin
geeint, daß sie mit der geistigen Biographic des Monarchen verbunden
waren?

Daß Friedrich Delitzsch, der Sohn des Alttestamentlers Franz
Delitzsch, der wie kaum ein anderer in seiner Zeit Wege zum
Verständnis des Judentums geebnet hatte, von den völkisch-
antichristlichen Antisemiten als einen der Ihren betrachtet wurde
, hat sein Ansehen bei den Theologen verdunkelt. Die Vorstellung
, er habe durch die Herleitung w ichtiger Teile der atl.
Gedankenwelt (Sagen der Genesis, altisraelitischer Monotheismus
) den Offenbarungscharakter der Bibel beseitigen wollen,
machte ihn wie den Ernst Haeckel der Welträtsel und den
Arthur Drews der Jesusmythe für eine rationalistische Agitation
interessant. Zu den wichtigen Ergebnissen der vorliegenden
Studie gehört freilich, daß die Position der späteren Schriften
Zur Weiterbildung der Religion (1908) und Die große T<ii<-
schung (1920/21) nicht ohne weiteres in die Zeit des Bibel-
Babel-Streits zurückübertragen werden darf.

Der jüngere Delitzseh (1850-1922), zuerst 1875 Privatdozent, seit 1878
Professor für Orientalistik, zunächst im väterlichen Leipzig, dann 1893 in
Breslau, seil 1899 in Berlin, begann als strenger Philologe und als von Dillmann
angeregter Bibelexeget noch auf den Spuren seines Vaters. Bis in die
Breslauer Zeit hinein war ihm die Keilschriftforschung, auf deren Gebiet er
Bahnbrechendes geleistet hat und für die er schließlich zur fahrenden Autorität
wurde, auch ein Instrument der Apologelik. Die innere Entfremdung
vom Bibelglauben bei gleichzeitigem Festhalten an einer subjektiven Religiosität
vollzog sieh, wie die in der Studie sorgfältig aufgewiesenen Spuren
/eigen, ganz allmählich.

Die beiden Vorträge, die Anlaß und Zentrum der Auseinandersetzungen
darstellen, bilden eine Art Wasserscheide. Zur
sensationellen Wirkung trug gewiß nicht erst der Inhalt bei. Im
Zeitaller der Orientpolitik und der Bagdadbahn einerseits und
des staatlich geförderten Volkskirchentums andererseits, mußten
schon die Themenstichworte Babel und Bibel elektrisierend w irken
. Den ei sten Vortrag am 13. 1. 1902 in der Singakademie vor
der Deutschen Orientgesellschaft in Gegenwart des Kaisers und
Mitgliedern seines Hofes gehalten, versuchte unter Bezugnahme
auf die jüngst abgeschlossenen Ausgrabungen in Mesopotamien
die Eingangskapitel der Genesis, aber auch den altisrelistischen
Monotheismus von den ungleich älteren Vorstellungen babylonischer
Mythologie her zu beleuchten und zu relativieren. Der
hier in kritischer (die verschiedenen Druckaullagen berücksichtigender
) Edition vorgelegte Text zeigt es: Das meiste war weder
neu noch originell, erreichte jedoch durch das Forum und die
sich daraus ergebende Publizität eine sensationelle Resonanz.
Die wissenschaftliche Reaktion, vor allem von theologisch konservativer
Seite, angeführt durch Eduard König und Rudolf Kittel
, später auch durch Alfred Jeremias, zeigt, daß es letztlich um
das Verhältnis von Religionsgeschichte und Offenbarungsglauben
ging und daß ein Begreifen der Phänomene im Schema von
Uroffenbarung und Degradation nicht mehr zu halten w ar.

Der ein Jahr später gehaltene zweite Vortrag. 12. 1. 1903. gerät
äußerlich zu einem gesellschaftlichen Ereignis und schwenkt
inhaltlich auf eine entschiedene Kritik an der Offenbarungstheologie
ein. Delitzsch hatte sich offenbar durch die Kritiker, ungleich
stärker als beabsichtigt, in diese Richtung drängen lassen.
Erst jetzt klingt auch die Absage an das ..jüdische" Alte Testament
und dessen Distanz zum jesuanischen Monotheismus auf.

Inzwischen hatte sieh Wilhelm II. mehrfach, vor allein durch den bald
veröffentlichten, dank der Kommentierung Harnacks (RuA II. 63-72) be-