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Ausgabe:

1995

Spalte:

898-900

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Lessing, Eckhard

Titel/Untertitel:

Zwischen Bekenntnis und Volkskirche 1995

Rezensent:

Mau, Rudolf

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897 Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 10

eigentlich immer um die grundsätzlichen ekklesiologischen
Probleme der notrechtlichen Konzeption von Dahlem. Kersting
möchte nun durch die Einbeziehung ..ereignis-, sozial- und wir-
kungsgeschichtliche(r) Fragestellungen" (14) dazu beitragen,
„ein zentrales Stück des Kirchenkampfes aus einer eher vernachlässigten
(Hier verdrängten Perspektive darzustellen und so
vorherrschende Auffassungen vom Kirchenkampf zu ergänzen
und zu korrigieren [...]: Selbstorganisation, Aufbau und Rechtskampf
der altpreußischen Bekennenden Kirche in den Jahren

1934 bis 1937 - immer im Konflikt mit den Staatsorganen und
den mit ihnen kollaborierenden landeskirchlichen Organen,
Richtungen und Instanzen - sind das Thema." (XI)

Im ersten Kapitel „Schritte zur Selbstorganisation als Bekennende
Kirche bis zur Dahlemer Reichsbekenntnissynode am
I9./20. Oktober 1934" schildert K. die „Sammlung der Pfarrei-
schafl und der Laien", den Weg „von den bekennenden Gemeinden
zu den freien Synoden" und das „kirchliche Notrecht
von Dahlem als Konsequenz und Bekräftigung der Bekenntnissynode
von Barmen". In dieser Phase wurde vor dem Hintergrund
eines seit Anfang der 30er Jahre spürbaren kirchlichen
und theologischen Reformwillens sowie einer „schroffen Ablehnung
der kirchen- und theologiegeschichtlichen Entwicklung
seit Beginn der Aufklärung" erkannt: „Alles Kirchenrecht muß
aus dem Bekenntnis hervorgehen und mit ihm in Einklang stehen
; andernfalls kann es kein legales Kirchenrecht sein." (125)

In den beiden folgenden Kapiteln werden der „organisatorische
Aufbau von EKdapU und BKdapU und der kirchliche
Rechtskampf von der Dahlemer Synode im Oktober 1934 bis
zum Eingriff .staatlicher Rechtshilfe" im Frühjahr 1935" sowie
die „Veränderungen in der Selbstorganisation der BKdapU unter
den Eingriffen .staatlicher Rechtshilfe' vom Frühjahr 1935
bis /um Frühjahr 1937" behandelt. K. bewertet „die Selbst-
organisation der BKdapU als eine Form gesellschaftsrelevanter
kirchlicher Opposition" (232) und betont die „immense Bedeutung
der Rechtsfrage im Kampf um Aufbau und Ordnung der
BKdapU" (235).

Aufschlußreich sind auch seine Darlegungen zu „Legalität'" und ..Legitimität
"" der BK. die - neben allem Ringen um die theologische Wahrheits-
frage - auch aus der „Rechtsnachfolge der BK-Organe" und der Anbin-
üung an die legalen BK-Kirchenleitungen in Westfalen (und Schlesien) abgeleitet
wurden (vgl. 235ff.). Die Erfolge, die die BK mit dieser Argumentation
zunächst vor Gericht hatte, dauerten allerdings nur bis zum Frühjahr

1935 an: „Der staatliche Zugriff auf die kirchliehe Vermögensverwaltung,
eine unabhängige Rechtsprechung in kirchlichen .Streittragen und auf die
Kirchenleitung, die Verschärfung von Gewalt und Willkür im Vorgehen
gegen die BK durch das Herrschaftsinstrument der Gestapo verkehren die
offensive, gestalterische Tendenz der bekenntniskirchlichen Selbstorganisa-
tion auf fast allen wichtigen Feldern kirchlicher Ordnung in ihr Gegenteil.
Die direkte Konfrontation mit dem NS-Regime entwickelt sich für die BKdapU
Stück für Stück zu einem bloßen Kampf um die Selbstbehauptung
ihres Ordnungsbestandes mit defensivem Charakter."' (289)

Das vierte Kapitel „Neugestaltungen in der Theologenausbildung
als Konflikt um Ordnung und Zukunft der Kirche" legt K.
als beispielhafte „ereignis- und wirkungsgeschichtliche Analyse
(also das komplexe Zusammenspiel von Durchsetzungs- und
Hinderungsmechanismen in den Konflikten)" an (vgl. 15), die
rund ein Drittel des Gesamtumfanges der Arbeit ausmacht. Präzise
wird „das spannungsreiche Verhältnis zu den Theologischen
Fakultäten und ihrem Lehrkörper" erfaßt, das sich mehr
durch eine „erhebliche Distanz zur Kirche als in kritischer Gegnerschaft
zu einem sich nun ganz, und gar anders definierenden
nationalsozialistischen Staatswesen" auszeichnete. In den
bekenntniskirchlichen Plänen sahen deshalb weite Teile der
Professorenschaft „die Gefahr einer Einschränkung der Freiheit
von Forschung und Lehre durch die Kirche, einer Klerikalisie-
rung der Theologie als Wissenschaft heraufziehen" (3831.).
Damit verkannten sie. wie K. zutreffend konstatiert, „daß gerade
in der Obhut eines hochschulpolitisch bereits wirksam gewordenen
totalitären Weltanschauungsstaates die Freiheit von

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theologischer Forschung und Lehre im ursprünglichen Sinne
nicht mehr gewährleistet war" (385). Es bleibt demgegenüber
„erstaunlich, wie weit die BKdapU angesichts dieser ständig
wechselnden, komplexen Hinderungslaktoren seit Barmen (29.-
31. Mai 1934) den Aufbau eines eigenen theologischen Ausbildungswesens
hat durchsetzen können" (ebd.).

Zusammenfassend würdigt K. „das in Barmen und Dahlem
fortentwickelte ckklcsiologische Modell einer .Volkskirche als
Bekenntniskirche', wie es sich im Aufbau der BKdapU widerspiegelt
, als realistische und bis 1937 relativ erfolgreich verwirklichte
Existenzmöglichkeit der Kirche unter den Bedingungen
eines totalitären Herrschaftssystems" (393).

Es ist K. offensichtlich nicht aufgegangen, daß der „Glau-
benskampf" der BK als „Rechtskampf' (vgl. 6) und die „Selbstorganisation
als Bekennende Kirche"" nur in einer Phase möglich
waren, in der das nationalsozialistische Regime als totalitäres
Herrschaftsregime noch nicht perfekt war. Dafür sprechen
schon die Erfolge vor Gericht, die die BKdapU zunächst noch
erreichte. In einem perfekten totalen Staat sind solche Gerichtsverfahren
mit solchem Ausgang nicht möglich. Man versuche
sich nur einmal vorzustellen, die DDR-Kirchen hätten mit solchen
Klagen vor Gericht gehen wollen!

Hier wird eine grundsätzliche Schwäche der Arbeit K s
erkennbar: Sie vernachlässigt die allgemeine Entwicklungsgeschichte
des nationalsozialistischen Regimes und konzentriert
sich zu sehr auf die Auseinandersetzungen innerhalb der Kirchen
und ihrem direkten Umfeld. Das hat analytische Schwächen
zur Folge, die sich vor allem auch überall da auswirken,
wo die „Resistenz- und Oppositionsfälligkeit" der BK bewertet
wird. Hier wäre zunächst schärfer zu differenzieren gewesen:
Was war zu welcher Zeit, in welchen Schichten und in welchen
Regionen im nationalsozialistischen System noch möglich'.'
Erst wenn das zumindest im Umrissen klar ist. kann diese Fragestellung
dann auch auf die Kirche und ihre unterschiedlichen
Gruppierungen. Entscheidungsebenen und Lebensbereiche
sinnvoll angewendet werden.

Zum Schluß seiner verdienstvollen Untersuchung fragt K.
nach einer Erklärung für den geringen Einfluß, den die BK auf
die kirchliche Nachkriegsentwicklung hatte. Neben den oll
genannten Gründen verweist er dabei vor allem auf die Tatsache
, daß die BKdapU sich eben nicht reichsweit durchsetzen
konnte und nicht zu einem mehrheitlich anerkannten Kirchenaufbau
im „Dritten Reich"' führte. Bereits im Frühjahr 1935 /erschlug
der sich totalitär perfektionierende NS-Staat die „Selbstorganisation
" der BKdapU. In einer totalitären Diktatur ist der
„Glaubenskampf' einer bekennenden Kirche als „Rechtskampf
" unmöglich: „So ist die ausgebliebene kirchliche Erneuerung
vielleicht nicht erst 1945 verpaßt, sondern schon zehn
Jahre vorher vom NS-Regime im Zuge der kirchenpolitischen
Wende des Jahres 1935 zunichte gemacht worden." (405) Dieses
Erklärungsmuster, dessen Stringenz gewiß weiter ausgearbeitet
werden muß. könnte die Kirchliehe Zeitgeschichtsfor-
schung noch erheblich beschäftigen.

Münster/W. Peter Maser

Lessing, Eckard: Zwischen Bekenntnis und Volkskirche. Der

theologische Weg der Evangelischen Kirche der altpreußischen
Union (1922-1953) unter besonderer Berücksichtigung
ihrer Synoden, ihrer Gruppen und der theologischen Begründungen
. Bielefeld: Luther-Verlag 1992. 525 S. gr.8» = Unio
und Confessio, 17. Kart. DM 78,-. ISBN 3-7858-0338-9.

Das leider erst lange nach Erscheinen zur Besprechung vorgelegte
Buch behandelt ein wichtiges Kapitel der Kirchen- und
Theologiegeschichte unseres Jahrhunderts: die Frage theologi-