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Ausgabe:

1995

Spalte:

859-866

Autor/Hrsg.:

Timm, Hermann

Titel/Untertitel:

Formationen des Geistes 1995

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859

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 10

860

Hermann Timm
Formationen des Geistes

Protestantische Theologie, Religiosität und neuzeitliche Lebenswelt1

Drei Dinge stehen zur Verhandlung, um sinnvoll geeint zu werden
: Theologie, Religiosität und Lebenswelt: eine Theologie
der Lebensweltreligiosität also. Dazu zwei Adjektive: protestantisch
und neuzeitlich. Protestantisch heißen seit dem 16. Jh.
die Anhänger der lutherischen Konfession, während neuzeitlich
die Grundunterscheidung von antik und modern, vergangen und
gegenwärtig, anachronistisch und aktuell impliziert. „Protestantische
Theologie, Religiosität und neuzeitliche Lebenswelt"
lautet das Thema. Ich lege es mir so zurecht, als ob die Folge
der Wörter ein zeitliches Nacheinander der Dinge, eine historische
Sequenz bezeichnen wollte. Erst die protestantische Theologie
, dann die protestantische Religiosität und schließlich beider
Gegenwart in der neuzeitlichen Lebenswelt. Das bietet den
Vorteil, eine Geschichte erzählen zu können, wie die Sachlage
entstanden ist. Und bietet zweitens den Vorteil, zielstrebig beim
dritten im Bunde zu enden: beim Hier und Heute. Denn darauf
will es hinaus.

I

Was die Eigenart protestantischer Theologie ausmacht, ist
schnell gesagt. Wer einen guten Konfirmandenunterricht genossen
hat, trägt die Antwort auf der Zunge. Luthers „Kleiner
Katechismus": „Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen
, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Was ist das? Antwort
: Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen
, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft
und alle Sinne gegeben hat und noch erhält; dazu Kleider
und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind,
Acker, Vieh und alle Güter..." Der Katechet benutzt das alte,
platonisch-metaphysische Frageschema: „ti estin", was ist das?
Was ist das Wesen von Gott, Allmacht, Schöpfung und wie die
Dinge aus dem Gelehrtenhimmel alle heißen mögen? Anders
der Katechant. Er vollzieht eine Kehrtwende von 180 Grad,
nimmt die Gotteskunde in den Rücken und beschreibt von ihr
ausgehend die Realitätsverhältnisse, in denen er sich empirisch
vorfindet, von der eigenen Leiblichkeit bis zum Horizont von
Wald und Feld.

Was ist Gott? „Ich glaube, daß er mich geschaffen hat." Eine
schulgerechte Antwort auf die Frage ist das nicht, vielmehr ein
„Paradigmenwechsel", wie man heute sagen würde: eine Revolution
der Denkungsart, mit der alles theologische Fragen und
Antworten verändert wird. Der Katechismus bekehrt. Er nimmt
die Dogmatik der Alten Kirche und der mittelalterlichen Scholastik
in den Rücken, um die Sinngehalte des Credo herunterzuholen
, sie zu verkörpern, zu inkarnieren in eine christenmenschlich
-christenweltliche Realitätsbeschreibung zu ebener Erde.
Da diese Realisierungsdynamik traditionellerweise dem Geist
zugeschrieben wird, dem Schöpfergeist, dem Spiritus creator,
will ich die Theologie des Protestantismus die Theologie des
Geistes nennen, gleichbedeutend mit der des dritten Artikels,
ausgerichtet auf das credo in spiritum sanctum. Damit hat
Luther in der Christentumsgeschichte Epoche gemacht. Er ist
für die Theologie geworden, was Columbus für die Geographie
wurde: der Entdecker einer neuen Welt, auch wenn er selbst sie
für die uralte hielt.

In der Reformationszeit hießen die Anhänger der rebellio
lutherana die Neugläubigen, unterschieden von den altgläubigen
Bewahrern des päpstlichen Systems. Seit dem Reichstag zu
Speyer von 1529 trugen sie den Schimpfnamen Protestanten,

1 Referat auf dem Hanns-Lilje-Forum, Hannover, 8. März 1995

wegen der „Protestation", mit der sie dort Einspruch gegen das
die Kirchenerneuerung behindernde Vorgehen der katholischen
Stände erhoben. „Protestler", „Oppositionelle", „Querulanten"
würde man heute sagen. Ich meinerseits habe den Begriff theologisch
gewendet und formalisiert, um mit „protestantisch" die
Konversion, die Umkehr der gegenstandsmetaphysischen Glaubensreflexion
in Richtung auf die Formationsdynamik des Geistes
zu bezeichnen.

II

Von der Theologie geht es weiter zur protestantischen Religiosität
, auf halbem Wege zwischen der Reformation und dem 20.
Jh. gelegen. Gemeint ist der Pietismus: jene Frömmigkeitsbewegung
des 17. und 18. Jh.s, die für die Seelengeschichte der
Neuzeit grundlegend werden sollte, vor allem in Deutschland,
dem Sprachraum von Luthers „Biblia deutsch". Dieser Raum
war in etwa identisch mit dem Schlachtfeld der Konfessionskriege
zwischen Alt- und Neugläubigen. Und die sind der auslösende
Faktor gewesen. In Mitteleuropa vor allem mußte man
erleben, daß selbst den Feldherren mit militärischer Gewalt
nicht gelingen wollte, woran die Theologen der sich verteufelnden
Konfessionskirchen gescheitert waren, nämlich die Einheit
der una saneta ecclesia und des corpus christianum über eine
homogene Doktrin, eine einheitliche Lehrgestalt des Christlichen
wiederherzustellen. Seit dem Westfälischen Frieden, der
1648 dem Gemetzel ein Ende machte, gab es im Reich mehrere
„Religionsparteien". Und auf diese in der Christenheit präze-
denzlose Lage hat der Pietismus mit der Entwicklung einer
eigenständigen, „überparteilich" genannten Frömmigkeitskultur
reagiert.

Das Hauptverdienst des Pietismus ist die erwiesene Lernfähigkeit
protestantischer Theologie. Er hat die Wißbarkeiten
des Credo hinsichtlich ihrer Zulänglichkeit für die praxis pieta-
tis selbstkritisch zu reflektieren gelehrt und damit allen heiligen
Kriegen die Legitimation im Himmel entzogen. Das kann nicht
nachdrücklich genug festgehalten werden. So begann, was Neuzeit
im engeren Sinn des Wortes heißen kann: die Autonomisie-
rung des Glaubens und die Umstellung der Christentumstheorie
von der spekulativen Gotteslehre zur Hermeneutik der Religiosität
oder Frömmigkeit.

Was neu ins Feld geführt wurde, war die Pathosformel Leben
. „Theologia experimentalis" (Gottfried Arnold) als „Theo-
logia ex idea vitae dedueta" (Christoph Friedrich Oetinger):
eine aus der Lebensbedeutsamkeit des Glaubens deduzierte
Erfahrungstheologie - das hat der Pietismus auf den Weg gebracht
. Er wollte Luthers „Reformation der Lehre" fortsetzen
mit einer allseitigen „Reformation des Lebens" in Gestalt von
Pädagogik und Diakonie, Bibellektüre und Bibelmeditation,
Gefühlserziehung und Herzensschulung, Autobiographik und
Sozialisierung im Geist von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit
, ohne konventionelle Standeshierarchien: „Priestertum
aller Gläubigen". Historischer Erfolg ist diesem Vitalisierungs-
programm auch nicht versagt geblieben. Man darf es den zweiten
Akt protestantischer Neuzeitschöpfung nennen. Er hat die
Lehrbarkeit des Lebens und mit ihr die Grenzen des Schulwissens
ins Zentrum der Reflexion gerückt.

Ehe es weitergeht zum dritten Teil muß ein Zwischenschritt
eingelegt werden, der nicht eigens auf dem Programm steht. Er
ist nötig, um die Epoche nach dem historischen Pietismus zu
erreichen. Dies um so mehr, als vom eigenen „Sitz im Leben"
die Rede sein muß - von der Universität. Seit Mitte des 18. Jh.s