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Ausgabe:

1995

Spalte:

831-833

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Brito, Emilio

Titel/Untertitel:

La pneumatologie de Schleiermacher 1995

Rezensent:

Nowak, Kurt

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 9

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gung vor der Logik von Lehraussagen, die die Implikationen
dieser Verkündigung entfalten, und begründet das Recht des
.Abbruchs des Diskurses' in der Wahrung dieser performativen
Intention, die durch konsequent durchgeführte Lehraussagen
(etwa von der gemina praedestinatio) destruiert würde (35()ff.).

Das bereits im Hinweis auf die Vielfalt der Exkurse und Redegattungen
beschriebene Grundproblem wiederholt sich in der Durchführung dieses an
sich ganz klaren Aufbaus: Es gelingt B. einerseits nicht, die Fülle der mit
der Lehre vom unfreien Willen zusammenhangenden Probleme kontrolliert
zu reduzieren. Auf der anderen Seite gelingt es ihm auch nicht, alle diese
Probleme - das Verhältnis von Gesetz und Evangelium; die philosophische
Diskussion zum Determinismusproblem; historische Fragen zum Verhältnis
von Pietismus und Neuzeit; Marcuses Anfragen an den reformatorischen
Freiheitsbergriff, um nur einige Beispiele zu nennen - auf einem adäquaten
Niveau zu diskutieren.

Eine Rezension hingegen erlaubt eine weniger kontrollierte
Reduktion; ich greife daher einen Grundgedanken B.s heraus,
der die Pointe seines Teiles C darstellt und in Teil E wieder aufgenommen
wird: die Beschreibung der performativen Intentionen
der Lehre von der Alleinwirksamkeit Gottes. B. erhebt den
Anspruch, auf diese Weise mittels sprachanalytischer Philoso-
phumena ein vergessenes Argument Luthers (158ff.) für die
Lehre vom unfreien Willen zu reaktivieren, nämlich den Verweis
auf die mit dieser Lehre bzw. mit der entsprechenden Verkündigung
intendierten Wirkungen, die B. in Kap. 7 („Die
beabsichtigten Rollen und Wirkungen von ,Gott rechtfertigt
dich'") erhebt (172-215): die Befreiung vom Druck der Selbstrechtfertigung
, der Trost, die Ermöglichung eines neuen Umganges
mit der Schuld, ein neuer Umgang mit der Welt. Diese
Wirkungen sollen durch jene Verkündigung hervorgerufen werden
, sie stellen illokutionäre Rollen des Sprechaktes dar. Diese
Wirkungen will B. nun als Argument für die Lehre vom unfreien
Willen einführen - etwa in dem Sinne: Es spricht für die
Lehre vom unfreien Willen, daß sie und nur sie jene Wirkungen
-insgesamt: Heilsgewißheit - vermittelt (158ff: 169ff, vgl. 63).
Allein: Ist dieser Verweis auf die Folgen des Evangeliums bei
Luther wirklich ein .Argument"? Kann dieser Hinweis ernsthaft
ein Argument sein? Wird denn ein Gedanke dadurch wahr, daß
er Heilsgewißheit vermittelt?

Ich sehe diesen schon in sich wenig schlüssigen Gedanken auch in den
von B. angegebenen Lutherstellen (15811.) nicht realisiert - so gewifS Luther
diese Wirkungen betont, so wenig werden sie bei ihm zum Argument. Das
ist auch ganz logisch; Trost vermittelt diese Lehre nur, weil und sofern sie
wahr ist, nicht umgekehrt. Und die Wahrheit der Lehre begründet bei
Luther, wie B. auch vermerkt, die Schrift. Insgesamt: ein Buch mit einem
wichtigen Grundanliegen, das mehr hätte sein können, wenn es sich auf ein
klar umrissenes Problem beschränkt hätte.

Von bleibender Bedeutung ist möglicherweise Teil D, der in
kommenden Arbeiten zum Thema einmal genauer, als das in
einer Rezension möglich ist, analysiert werden sollte.

Göttingen Notger Slenczka

Brito. Emilio: La pneumatologie de Schleiermacher. Leuven:
University Press; Leuven: Peeters 1994. XII, 649 S. gr.8° =
Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium, 113.
Kart. BEF 3000.-. ISBN 90-6186-604-9 u. 90-6831-624-9.

Unter den großen Denkern seiner Epoche zählt Schleiermacher
in der frankophonen Welt noch immer zu den eher unbekannten
Autoren. Die Studie von Bernard Reymond aus dem Jahr 1984
zeigte, wie wenig Studien bis dahin in französischer Sprache
vorlagen (Archivio di Filosofia 52 [1984], 465-497; „Annexe",
489ff.). Seither hat sich die Forschung weiterentwickelt. Zu
verweisen ist u.a. auf Arbeiten von J. Greisch (1984), M. Simon
(1984), M. Despland (1987) und P. Demange (1991). Von
einem wirklichen Durchbruch kann trotzdem noch keine Rede
sein. Die Veröffentlichung von Emilio Brito versteht sich mit

dem Gewicht, das sie einzubringen hat, wohl nicht zuletzt als
eine Art „Eisbrecher".

Der Vf. möchte in der Perspektive der »pneumatologie« Einblick
in Schleiermachers Philosophie und Theologie geben. »On
ne trouve pas, en langue francaise, de presentation detaillee de
l'ensemble de l'oeuvre philosophique et theologique de Schleiermacher
« (11). Böte B.s Buch nur eine erste Einführung, wäre es
für die Schleiermacherforschung weniger beachtlich, als es ist.
Der Autor besitzt Umsicht genug, um zu wissen, daß die Behandlung
des Themas Geist, sofern sie nur umfassend genug angelegt
ist, den Überblick über Schleiermachers Philosophie und Theologie
gleichsam wie von selbst mitliefert, ohne daß dabei der Anspruch
auf eine Gesamtdarstellung eingelöst werden muß. Im
ersten Teil seines Buches behandelt er das Geistproblem in den
„poetisierenden" Jugendschriften Schleiennachers: in den Reden
„Über die Religion", in den „Monologen" und in der „Weihnachtsfeier
". Der zweite Teil ist den seit 1804/05 entstandenen
philosophischen Texten gewidmet, namentlich der „Dialektik",
der „Ästhetik", der „Psychologie" und der „Hermeneutik". Der
dritte Teil ist der „Glaubenslehre" und der „Christlichen Sitte"
vorbehalten. Der abschließende vierte Teil beschäftig) sich mit
der. wie der Vf. sie nennt, »pneumatologie philosophique«, und
der »pneumatologie theologique«.

Um seinen integrativen Ansatz in der Forschungslandschaf)
zu plazieren, verweist der Vf. auf die jeweils nur segmentären
Rekonstruktionsinteressen in der bisherigen Fachliteratur. Die
noch immer wichtige Studie von Wilfried Brandl erlegte sich
eine Doppelbeschränkung auf (Der Heilige Geist und die Kirche
bei Schleiermacher. Zürich 1968). Sie behandelte die Lehre
vom Geist allein aus theologischer Sicht, zudem noch konzentriert
auf die „Glaubenslehre". Mit den philosophischen Dimensionen
des Geistes sei Brandt ausweichend, wenn nicht sogar
negierend umgegangen. Umgekehrt hätten die zahlreichen philosophischen
Studien Uber Schleiermachers Theorie des Geistes
, des Bewußtseins, des Wissens usf. den theologischen Kontext
zumeist beiseitegelassen. Beide „Pneumatologien" zusammenzuführen
oder, vorsichtiger gesagt, deutlicher aufeinander
zu beziehen als bisher, ist das Anliegen des Vf.s. Sein Untersu-
chungs- und Erkenntnisziel besteht in der qualifizierten Zuordnung
von Geisl (philosophisch) und Geist (theologisch). Die
Doppelperspektive von Philosophie und Theologie war auch
schon für seine Arbeiten über Hegel (La christologie de Hegel.
Verbum crucis. Paris 1983) und über Schelling (Lacreation
Selon Schelling. Louvain 1983) charakteristisch.

Methodisch entschied sich der Vf. für eine Mischung aus
historisch-genetischer Rekonstruktion und systematischer Reflexion
. In den Teilen I-III geht er in chronologischer Abfolge
an den Schriften Schleiermachers entlang und sammelt in deskriptiver
Art das für sein Thema belangvolle Material. Da nur
wenige Schriften Schleiennachers in französischer Übersetzung
vorliegen, dienen die deskriptiven Teile der weiteren Bekanntmachung
von Schleiennachers Werk in der frankophonen Well.
Manche der übersetzten Schriften sind heutzutage nur noch
schwer greifbar, beispielsweise die »Monologues« (trad. L.
Segond. Geneve 1837). Teil IV nimmt unter der Überschrift
»L'espritetl'espril saint« (365-603) das vorab ausgebreitete
Material in systematischer Perspektive auf.

Der Vf. ist ein guter Kenner der Literatur zu Schleiermacher,
auch wenn mitunter die Bekanntschaft mit den jüngsten Veröffentlichungen
vermißt wird. Ich nenne einigermaßen beliebig den
Aufsatz von Hermann Patsch (Metamorphosen des Erdgeistes. In:
New Athenaeum/Neues Athenaeum Vol. I [1989], 248-279) und
den von Günter Meckenstock in Verbindung mit Joachim Ringleben
betreuten Sammelband (Schleiermacher und die wissen
schallliche Kultur des Christentums. Berlin/New York 1991).
Patschs Aufsatz und einige Beiträge des Sammelbandes wären für
den Gegenstand des Buchs von unmittelbarem Interesse gewesen.