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Ausgabe:

1995

Spalte:

828-831

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Brandt, Reinhard

Titel/Untertitel:

Die ermöglichte Freiheit 1995

Rezensent:

Slenczka, Notger

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 9

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bereitet gipfelt daraufhin der erste Teil in der Darstellung von „Blumenbergs
Versuch einer Phänomenologie der Geschichte" (57, vgl. 2), die als
Horizont erkannt und dargestellt zu haben m.E. die eigentliche Stärke der
Arbeit ausmacht - wenngleich hier das Verhältnis zu L. Landgrebe und E.
Rothacker noch zu klären wäre oder auch, weshalb Blumenberg von seinem
Phänomenologiekonzept nur in Andeutungen spricht (z.B. Höhlenausgänge
19), während seine diversen Werke doch .ausgeführte Fragmente' dazu bilden
: zudem ist seltsam, daß in der Formulierung des Vf. ..Phänomenologie
der (Christentums-)Geschichte" eine Unterscheidung eingeführt wird, die
dann leider unthematisch bleibt.

Die vom Vf. so genannte „philosophische Eschatologie" Blumenbergs
sei der Versuch, die „bedrohte Selbsterhaltung des
Menschen durch einen Rekurs auf diejenigen Denkformen zu
schützen, die dem Menschen Einzigkeit, Irreversibilität und sittliche
Autonomie noch einmal gewähren könnten" (74, vgl. 4). In
Abgrenzung von H. Jonas entwirft der Vf. „Blumenbergs eigene
Thesen zu einer eschatologischen Moral": „Die absolute Individualisierung
der einen [?] Existenz führt zu einer - gegen Jonas
gerichteten - Endlichen Unsterblichkeit, die... als Ganzwerden
des endlichen Lebens verstanden wird" (83). Ob indes Blumenberg
..noch einmal" eine Anwort auf Husserls Problem der radikalen
Fraglichkeit jenseits der Lebenswelt (75f) und auf die vierte
Frage Kants suche und gar meine geben zu können, scheint
mir zweifelhaft und eher das Eigeninteresse des Vf. anzuzeigen.
Blumenbergs höchst indirekter Umgang mit der Seinsgrundfraglichkeit
und der gefährdeten Endlichkeit intendiert - jenseits seiner
intentionalen Enthaltsamkeit und phänomenologischen Diskretion
- m.E. eine Grundfragentherapie im Wechselspiel von
memoria und imaginatio (vgl. auch 831.129) vielleicht mit dem
.Ausblick' auf eine phänomenologische ars moriendi.

Auf den überreich mit Zitaten gesättigten ersten Teil folgen im
zweiten „Denktraditionen und theologische Implikationen in den
Begründungszusammenhängen der Philosophie Blumenbergs"
(85ff) und zwar zuerst „Hermeneutisch-methodische Erschließungen
", in denen erneut auf P. Valery eingegangen wird
(85ff, vgl. 28ff,48f), mit dem Versuch, ihn von Blumenberg zu
unterscheiden und dessen Perspektive als ein ..Phantastisches
Lesen" (98) darzustellen, das „in der Rezeption des Vergangenen
einen .Überschuß' über Faktizität wahrnimmt", um „mit der Geschichte
nicht identisch zu werden" (96). Der Vf. macht seinerseits
von solcher Lesart großzügig Gebrauch, wenn er Valery selber
kaum zu Wort kommen läßt (nur bei Anm. 12,17,21), wirft
aber Blumenberg zugleich „ästhetischen Solipsismus" vor (94).
Als „praktische|r| Leser" depotenziere er zudem die Geschichte
auf „ein niedriges deskriptives Niveau, das sich der Parteinahme
durch die Unterstellung einer entkonfligierten Wirklichkeit entzieht
" (99) - ob in dieser Kritik indes Blumenbergs ,intentionale
Epoche' und seine Figur des Absolutismus der Wirklichkeit angemessen
beurteilt sind, erscheint mir fraglich.

Nach der folgenden ethisch aufschlußreichen Darlegung zu
Blumenberg und C. Schmitt (99ff, vgl. 50fD, die ersterem
.Ästhetik als Anti-Politik" (100) vorwirft, entfaltet der Vf. seine
Titelthese „Endliche Unsterblichkeit. Überlegungen zu einer
eschatologischen Moral im Anschluß an Hans Jonas" (113-
132; vgl. den Verweiszirkel 83, Anm. 17 mit 113, Anm.l; der
Eschatologiebegriff bleibt in Bedeutung und Herkunft mehrdeutig
, vgl. 4,12,74-76,80,83,116; s. dazu die indirekte Nennung
in „Arbeit am Mythos", 325, dort im Zusammenhang mit
der Endigung eines Mythos und E. Bloch). In Abgrenzung zu
H. Jonas entwerfe Blumenberg seine „eschatologische Moral"
(113). die qua memoria jeden einzelnen frage, ob er den „Anblick
der eigenen Handlungen mit all ihren Folgen für alle Zeiten
ertragen" könne (122), wodurch das Gericht in das fragmentarische
Einzelleben hineingenommen und die Endlichkeit einer
„Unerträglichkeit" ausgesetzt werde, die die intendierte „Endliche
'Unsterblichkeit" abgründig gefährde (1250- Nur in der
ästhetischen Imagination lasse sich dann noch Trost finden, der
doch so dringend gesucht sei (128, vgl. 125,130f) - wogegen

der Vf. „Biblisches Erzählen" (1301) der „Gottesgeschichte"
(132) als die traglahigere Perspektive anführt.

,„Lebenskunst' angesichts unversöhnter Wirklichkeit. Zur
Philosophie Blumenbergs" (133ff) und „,Matthäuspassion'
oder: Die Aktualität Nietzsches. Zur . Theologie' Blumenbergs"
(156ff) überschreibt der Vf. seine „Resultate und Konsequenzen
" (I33ff), die er anhand einer Auseinandersetzung mit Blumenbergs
Matthäuspassion entwickelt. Dessen ästhetische Lesart
der Bachschen Passion sei auf dem Hintergrund von J. Ber-
nays Auslegung der aristotelischen Tragödientheorie zu verstehen
, dergemäß Blumenbergs Zuschauerdistanz „im Wissen um
das Unbetroffensein vom Geschehen den ästhetischen Genuß
ermöglicht" (133) in einem der „Exile ästhetischen Erlebens
abseits der Zumutungen einer gewalttätigen Welt" (140, vgl.
145). Dieser Versuch der „Identitätsstiftung durch Kunst" (146,
vgl. 167) führe zu einer „Regression ins Erhabene einer nachchristlichen
Existenz" (147) und zur „Konstruktion einer gewalttätigen
Einprägung in die Erinnerung eines Anderen"
(149), um die eigene Endlichkeit zu überwinden, womit er letztlich
„im Bannkreis mythischen Denkens" verbleibe (156) und
trotz intendierter Gnosisüberwindung in ihr selber gefangen
bleibe (162,171 ff, 177f).

Im Anschluß an Nietzsches Gottestod suche er über ihn hinaus den Menschen
von der Konsequenz einer Erwartung des Übermenschen zu befreien
(1701): aber die Matthäuspassion sei schließlich nur ..das melancholische
Produkt einer nachchristlichen Vernunft, die es mit der Welt und mit sich
selbst allein aufzunehmen wagt" (182). Diese mehr als deutlichen Urteile -
die sich vielleicht am ehesten durch die polemische Entgegensetzung des
Vf.s erklären - bilden den Kontrast für des Vf.s eigene Auffassung, die er
anhand des Hiobbuehes in der Lesart J. Ebachs (141-144) verdeutlicht und
als „biblische Form der Erinnerung" (152) und „Biblische Ästhetik" (153)
ethisch verantwortet wissen will - was einen an J. B. Metz erinnern könnte.
Bilder des Leidens sperrten sich gegen ihre Funktionalisierung zwecks einer
Identitätsbildung (155. vgl. VII) oder gegen die Integration in eine ...Sinntotalität
" (153). Darum sei auch der von Blumenberg dringend gesuchte
„Trost inmitten der Schrecken" (18310 zu finden und nicht jenseits derer in
der Kunst (184.186).

In diesem Sinne wäre als Untertitel der Arbeit vielleicht passender: .Studien
zur theologischen Kritik Hans Blumenbergs', die versucht zu haben
ein weiteres Verdienst des Vf.s ausmacht, abgesehen von der überaus hilfreichen
und (fast) vollständigen Bibliographie Blumenbergs. Ob allerdings
- um der Kritik willen? - Blumenberg in der referierten Weise auf einen
solipsistischen, ästhetischen Eskapismus reduziert werden kann? Immerhin
wehrt er sich gegen einen „.Umweg' zur Ästhetisierung der Passion" (Matthäuspassion
224) und sucht statt dessen - gegen Nietzsche - dem zeitgenössischen
Hörer die Passion verständlich (ebd. 304-306) und nachvollziehbar
zu machen (ebd. 4()ff. vgl. 9) - als ..Konsorte jenes Entsetzens.
Außersiehseins und Schweigens der Frauen" am Grabe (247).

Zürich Philipp Stoellger

Brandt. Reinhard: Die ermöglichte Freiheit. Sprachkritische
Rekonstruktion der Lehre vom unfreien Willen. Hannover:
Luth. Verlagshaus 1992. 433 S. 8«. Kart. DM 48.-. ISBN 3-
7859-0621-8.

Bei der anzuzeigenden Arbeit handelt es sich um eine Dissertation
, die von J. Track betreut und in München als Promotionsleistung
angenommen wurde. Bereits J. Track hat in seiner Habilitationsschrift
(Sprachkritische Untersuchungen zum christlichen
Reden von Gott, Göttingen 1977) die sprachanalytische Philosophie
für die Begründung der Rede von Gott nutzbar zu machen
versucht; allerdings hat er sich gegenüber der Lehre vom unfreien
Willen als eher spröde erwiesen (.„Glaubt jemand an Gott', so
bedeutet dies nicht, daß er ontologische Vorannahmen über die
Unfähigkeit des Menschen zu einem Leben nach der praktischen
Grundnorm machen muß". J. Track, aaO. 277, kursiv im Orig.).

Im Unterschied zu seinem Lehrer hält B. die Lehre vom
unfreien Willen als Korrelat der Lehre vom allein rechtfertigenden
Gott für unverzichtbar: „Ich habe nicht nur als Postulat, sondern
im Vollzug entdeckt, wie wichtig und hilfreich der Artikel