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Ausgabe:

1995

Spalte:

823-825

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Schweitzer, Albert

Titel/Untertitel:

Reich Gottes und Christentum 1995

Rezensent:

Jenssen, Hans-Hinrich

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 9

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Den Band beschließt Günter Arnold, Weimar, Situationen
und Annäherungen - Probleme einer aktuellen Herder-Biographie
(403-413, Rekonstruktion des frei gehaltenen Vortrags). Es
ist heilsam, daß dieser nachdenkliche Beitrag, der bei aller
Anerkennung für das bisher Erforschte auf viele unaufgearbei-
tete Probleme und zählebige Mißdeutungen hinweist, den
Schlußpunkt setzt, macht er doch auf kleinem Raum deutlich,
welche Erkenntnisse in Hinblick auf die „Distinktion von Autor
und Mensch" (404, „das ,Werk' eine den Widerständen des
Lebens abgerungene Leistung"), auf die Eigenarten des Herderschen
Schreibens (406f., 410ff.), auf die aus einer „unglaublich
ausgebreiteten Lektüre, der produktiven Verarbeitung und Anwendung
von z.T. verschüttetem Bildungsgut" (407) resultierenden
Orginalität Herders (und Hamanns) bei künftigen Herder
-Deutungen berücksichtigt werden sollten. Die zuletzt formulierte
Erkenntnis nimmt gerade auch die theologische Herder
-Interpretation in die Pflicht, die breitgefächerte theologische
Tradition, die Herder (wesentlich auch von Hamann vermittelt
) aufgenommen hat, zu ergründen.

Herder, das weist dieser Band auf, war in allen Phasen seines
Wirkens ein geschichtlich denkender Mensch, nicht zuerst in
dem Sinne, daß er sich der Geschichte nicht als zu Kultur. Gesetz
geronnener bemächtigt und ihr sein Siegel aufdrückt, sondern
daß er sich in Geschichte hineingestellt, sich von ihr in Verantwortung
gerufen weiß. So wird es unerläßlich sein, Herdersches
Schreiben als Momentaufnahme von Geschehen zu erkennen,
das Bewahrung und Erneuerung in sich schließt. Dies impliziert
auch, daß jeder terminus, den Herder benutzt, geschichtlich ist,
daß er eine traditionale, eine aktuale und eine finale Dimension
hat, wobei das Gegenwärtige nicht etwa das Maß aller Dinge ist,
sondern vor dem Gericht des Hergekommenen und Kommenden
steht, das der Gegenwärtige (der menschliche Gott) offenbart.

Zillbach Udo F. Hul.i

Schweitzer, Albert: Reich Gottes und Christentum. Hrsg.
von U. Luz, U. Neuenschwandert, u. J. Zürcher. München:
Beck 1995. 508 S. gr. 80 = Albert Schweitzer. Werke aus
dem Nachlaß. Lw. DM 118,-. ISBN 3-406-93131-1.

Die große Wirkung Albert Schweitzers beruht unzweifelhaft
auf der wechselseitigen Verzahnung seines geistigen Werkes
und seines ärztlichen Wirkens als Gründer und Betreiber des
Lambarene-Spitals. Sein Denken und sein Handeln bildeten
eine großartige Einheit und verliehen beiden ihre Überzeugungskraft
. Aber er selbst hoffte, daß sein geistiges Werk „das
bleibende Haus" sein werde. So ist es sehr zu begrüßen, daß
nun, nachdem ein früherer Anlauf zur Herausgabe seiner umfangreichen
nachgelassenen Manuskripte aus einer Reihe von
Gründen nicht zum Ziele führte, ein neu gebildeter Herausgeberkreis
sich dieser Aufgabe widmet. 1995, fast 30 Jahre nach
Albert Schweitzers Tod, ist nun der erste Band einer Nachlaß-
Ausgabe im Verlag C. H. Beck erschienen, die 8 Titel in 9 Bänden
umfassen und noch in diesem Jahrtausend abgeschlossen
sein soll. Es ist sinnvoll, daß „Reich Gottes und Christentum"
den Anfang macht, denn in einem Brief vom April 1954
bezeichnete Schweitzer dies Manuskript als „mein theologisches
Testament" und im Februar 1949 charakterisierte er es als
„das Finale zur ,Geschichte der Leben-Jesu-Forschung' und zur
.Mystik des Paulus'", also seinen beiden großen theologischen
Hauptwerken, die aus der Theologiegeschichte unseres Jh.s
nicht mehr wegzudenken sind. In der Tat liefert „Reich Gottes
und Christentum" eine akzentuierte Zusammenfassung wesentlicher
Grundgedanken dieser beiden Werke und ergänzt sie
durch Ausführungen über das Reich Gottes bei den israelitischen
Propheten und im Spätjudentum und durch die Darstellung
wesentlicher Etappen der „Enteschatologisierung" christlichen
Glaubens bis zur Gegenwart.

Hgg. dieses Bandes sind der 1977 verstorbene Ulrich Neuen-
schwander (zu ihm vgl. ThLZ 108, 1983, 91-100), sein ehemaliger
Assistent Johann Zürcher, der sich in entsagungsvoller und
bewundernswerter Weise ganz und gar der Dokumentation und
der Herausgabe des Schweitzer-Nachlasses gewidmet hat und
der Berner Neutestamentier Ulrich Luz. Neuenschwander, dem
wir die entscheidende Initiative zur Herausgabe des Schweitzer-
Nachlasses zu danken haben, hatte bereits 1967, damals noch
im Verlag J. C. B. Mohr, den bis dahin allein bekannten ersten
Teil des Bandes herausgegeben, der jetzt noch einmal im
ganzen unverändert, aber mit zusätzlichen Anmerkungen und
Notizen aus dem Nachlaß abgedruckt wird. Ihm folgt der zweite
Teil, der erst 1977 bekannt wurde, aber zeitlich vor dem ersten
Teil entstand, nämlich in der Hauptsache zwischen 1947
und 1949, während der erste Teil aus den Jahren 1950/51
stammt.

Die Hgg. legen eine m. E. vorbildliche Edition vor, die über
das Schicksal und die grundsätzliche Bestandserfassung der
zahlreichen Manuskripte Schweitzers Auskunft gibt und jeweils
nachweist, in welchem Bestandteil die Originale bzw. die von
Zürcher gefertigte Dokumentationsabschrift zu finden sind, die
der Ausgabe zugrunde liegen. Zahlreiche Randnotizen und Anmerkungen
Schweitzers werden dokumentiert. Sehr zu begrüßen
ist, daß dabei auch die Datums- und Ortsangaben wiedergegeben
werden, mit denen Schweitzer seine Manuskripte
versah. Es ist bewegend, auf diese Weise nachzuerleben, wie
Schweitzer auf dem Dampfer, in unterschiedlichen Quartieren
usw. sich immer wieder neu die Zeit und Energie zur Arbeit an
diesem Werk abrang, und wie er immer wieder bestimmte Partien
und Gedanken neu formulierte. Das hat die Edition zwar
vor große Schwierigkeiten gestellt, belohnt den Leser aber mit
einem starken Eindruck davon, mit welcher Sorgfalt und mit
welchem Engagement Schweitzer an diesem seinem theologischen
Testament gearbeitet hat. Als „Skizzen". ..Entwürfe" und
„Varia" sind diese unterschiedlichen Bemühungen Schweitzers
dokumentiert.

Sehr dankenswert ist auch das „Verzeichnis von bereits gedruckten
Texten aus dem Nachlaß A. Schweitzers und von Neudrucken
anderer verstreuter Veröffentlichungen", das Johann
Zürcher ohne Anspruch auf Vollständigkeit zusammengestellt
hat. Ein Bibelstellen- und ein „Namen und Sachen"-Register
von Züricher ergänzen den Band.

Neben vielem, was dem Schweitzer-Kenner bereits grundsätzlich
bekannt ist. stößt er auch auf manches, was ihm neu ist,
und das Bild von Schweitzers Denken und Glauben ergänzt und
vertieft. Seine wissenschaftlichen Darlegungen sind durchsetzt
mit sehr persönlichen Bekenntnissen.

Die grundlegende Konsequenz, die Schweitzer aus seinen
historischen Untersuchungen über die Enteschatoligisierung
zieht, ist die, daß das gegenwärtige Christentum vor der Aufgabe
steht, nicht nur passiv auf das Reich Gottes zu warten, sondern
, getrieben vom Geiste Gottes, aktiv daran zu arbeiten und
darum zu ringen, es bereits hier auf Erden in den Herzen der
Menschen und in den zwischenmenschlichen Beziehungen soweit
als möglich zu verwirklichen:

„Auch für den neuzeitlichen Glauben bedeutet das Werden des
Reiches Gottes auf Erden nicht alles. Auch er schaut von dieser
Welt und von der Zeitlichkeit auf die Ewigkeit aus und auf das,
was nach dem Tode sein wird. Er weiß aber, daß wir dies Gotl
anheimgestellt lassen müssen und daß wir in diesem Dasein nach
der Seligkeit trachten müssen, daß es in uns und in der Welt
Reich Gottes werde, aus der uns Gott, wenn wir uns in ihr
bewährt haben, zur zukünftigen eingehen läßt. Gegen das Vaterunser
und den in ihm niedergelegten Glauben an das auf Erden
kommen sollende Reich Gottes kann keine Theologie, die das