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Ausgabe:

1995

Spalte:

819-823

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Titel/Untertitel:

Johann Gottfried Herder 1995

Rezensent:

Huss, Udo Franz

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 9

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ther hinter die Scholastik zurückgreifend in der ihm kongenialen
monastischen Theologie des 12. Jh.s einen Anknüpfungspunkt
für seine „Wiederentdeckung des Evangeliums" fand
(vgl. 38). Sicher verband Luther mit dieser Epoche mehr als mit
der ungeliebten Scholastik. Aber dieses historisch bedingte
Urteil, wurzelnd im Geschichtsbild des Humanismus, kann
doch wohl nicht heuristische Grundlage für heutiges historisches
Urteilen sein. An ein Kontinuitätsdenken wird hier zugunsten
der ökumenischen Perspektive angeknüpft, das eigentlich
Luther schon theologisch überwunden hat - wie sich
anhand von B.s Darlegungen selbst darlegen läßt: Die Einheit
der Kirchengeschichte läßt sich nicht konstruieren, aber sie ist
in Gottes Wort gegenwärtig, das den Glauben wirkt, durch den
die Heiligen schließlich doch gerettet werden.

Es ist das Verdienst von B s Arbeit, ein außerordentlich reiches
Material aufgearbeitet zu haben und zur Verfügung zu stellen
, das Luthers Umgang mit dem Phänomen des „Kirchenvaters
" während seiner ganzen theologischen Existenz nachvollziehbar
macht.

Jena Ute Mennecke-Haustein

Bollacher. Martin: Johann Gottfried Herder. Geschichte und
Kultur. WUrzburg: Königshausen & Neumann 1994, XII, 414
S. gr.8o. Kart. DM 98,-. ISBN 3-88479-816-2.

Der Titel „Geschichte und Kultur", unter dem insgesamt 29 Vorträge
publiziert werden, die in der Zeit vom 10.-13. Juni 1992 in
Bochum auf der Konferenz der International Herder Society/In-
ternationale(n) Herder-Gesellschaft gehalten worden sind, trifft
ohne Zweifel die Mitte von Leben, Denken, Schreiben Johann
Gottfried Herders, des lutherischen Geistlichen, der in Philosophie
, Ästhetik, Historik bis heute weit intensiver rezipiert wird als
in der evangelischen Theologie, wenn dabei die Spannung mitbedacht
ist, die nach Herders Einsicht das Verhältnis von Geschichte
und Kultur ausmacht, die Spannung, die analog dazu auch zwischen
Universalem und Individuellem besteht: Das Universale ist
nur da als Individuelles, doch Individuelles wird nur durch das
Da-Sein des Universalen. Herders Einsicht in diese spannungsreiche
Existenz in der Geschichte können die meisten der hier versammelten
Beiträge durchaus aufzeigen und vermitteln.

Es kommt dem Bande eher zugute, daß die Auseinandersetzung
zwischen Herder und seinem Königsberger Lehrer, dem
späteren „säkularen Antipoden" (X) I. Kant nicht in dem Maße
dominiert, wie im Vorwort (M. Bollacher. 1X-XII) angedeutet,
zumal sich die ersten beiden Beiträge mit Kants Vorwurf. Herders
Geschichtsphilosophie erweise dessen „erkenntnistheoretische
Naivität" (1), intensiv und differenziert auseinandersetzen.

Ulrich Gaier, Konstanz, verweist in dem unter dem Titel
Poesie oder Geschichtsphilosophie? Herders erkenntnistheoretische
Antwort auf Kant abgedruckten (1-17) ersten Teil seines
Vortrages (I Anm. I) auf Herders .dreiköpfigen' Zugang zu den
Phänomenen der Welt, der auch dessen Sicht der Geschichte
prägt. Allerdings bleibt diese Herdersche Trias (die verhüllt in
einer Reihe der folgenden Aufsätze wiederkehrt) bei Gaier ein
rein erkenntnistheoretisches Mittel, wird ein Stück autonomer
Weltbemächtigung. Damit wird aber die existenzielle Erfahrung
Herders, daß der Mensch triadisch mit Geschichte konfrontiert
ist, ignoriert, was zur Folge hat, daß wichtige Anliegen
Herders, gerade auch die Humanität (!), als rein formal (16) abgetan
werden.

Hans Dietrich Irmscher, Köln, verifziert in seinem Beitrag
Methodische Aspekte in Herders Schriften (19-38), der ein insgesamt
beeindruckendes Zeugnis von einer jahrzehntelangen
Beschäftigung mit dem Denken Herders ist, Herders Zugang
zur geschichtlichen Existenz als einen komplexen Gebrauch

von Methoden. Die Ausführungen Irmschers über „Polemische
Ankniipfung'"(20-24), Analyse oder die .anthropologische
Einziehung'" (24-27), „Geschichtliche Hermeneutik" (27-3S)
machen deutlich, daß es sich hier um einander ergänzende Zugänge
zur Geschichtlichkeit des Menschen handelt, die gleichwohl
als eine (triadische) Konstante erfaßt wird: Selbstorientierung
für einen Neuanfang durch (im doppelten Sinne!) Aufheben
des Überkommenen (bes. 32), Blick auf das Ganze der
Geschichte und Gerechtigkeit für das Individuelle (33). Ahnung
neuer Perspektiven (33-38). Was Irmscher in letzterem Zusammenhang
über die „vergleichende Methode" bei Herder ausführt
, sollte unbedingt zur Weiterarbeit veranlassen.

Diese wichtigen Einsichten Irmschers werden allerdings an einigen Stellen
des Beitrages durch die Tendenz konterkariert, den normierenden, vormundschaftlichen
Eingriff des Menschen in den Lauf der Geschichte als
ungebrochenes Positivum festzuhalten, was zur Folge hat, daß Irmscher am
Ende einer skeptizistischen Position bedenklich nahe kommt (36ff.).

Über die Ausbildung von Herders geschichtsphilosophischem
Denken und die dabei zutage tretenden Differenzierungen handeln
bei erfreulich konsequenter Orientierung am Herderschen
Text die Beiträge von Y. Shimada für die Reisezeit, T. Markworth
für die frühen Bückeburger Jahre, R. Otto für die Weimarer
Zeit:

Yoichiro Shimada, Fukuoka. zeigt in seinem Beitrag Individualgeschich-
te und Universalgeschichte bei Herder. Geschichtlichkeit ah konstruktives
Prinzip des Reisejournals (39-49) auf. daß in diesem Frühwerk schon alle
Konstanten der Herderschen Geschichtsphilosophie zumindest angedeutet
sind (wenngleich sie wegen des aktionistischen Denkansatzes noch eher beziehungslos
oder notdürftig gekittet nebeneinanderstehen): die „Dynamik
zwischen Individuuni und Universum" (39), das Sein ist im Werden (44),
Bildung in der Gegenwart aufgrund der Vergangenheit auf die Zukunft hin
(45). das neue Leben durch den Tod hindurch (44). das Herder hier allerdings
noch als Resultat eines willentlichen Aktes des Menschen wähnt.

Daß Herder diese Auffassungen überwindet, dokumentiert Tino Markworth
, Stanford, unter dem Titel Unterwegs zum Historismus. Der Wandel
im gesehiehtsphilosophischen Denken Herdes von 1771 bis 1773 (51-59).
der herausarbeitet, daß Herder „ein eher fortschrittsorientiertes Geschichtsmodell
aufgibt" (51), weil ihm die „reduzierte Erkenntnismöglichkeit des
Menschen" (57) bewußt wird, weil Herder sensibilisiert wird für die Nebeneffekte
historischer Gewinne (ebd.). Markworth betont, daß Herder den
Glauben an den Sinn der Geschichte dennoch nicht verliert, weil er sie als
„durch Gott abgesicherte Totalität" erkennt (ebd.. wozu allerdings bemerkt
werden muß, daß diese „Absicherung" darin besteht, daß Gott sich seiner
Totalität entäußert, als Mensch zum Menschen kommt und sich dem Totalitären
aussetzt, vgl. Homilien über das Leben Jesu 1773/1774). Daraus
ergibt sich folgerichtig, daß das Leben des Einzelnen nur als Teil des
Ganzen sinnvoll ist.

Zu dieser Einsicht Herders in die Geschichte kann Jürgen Jacobs in seinem
Beilrag „Universalgesehichte der Bildung der Welt". Die Problematik
des Historismus beim frühen Herder (61-74) eigentlich nur Befremden bekunden
, ohne allerdings wesentlich neue Erkenntnisse beizusteuern.

Auf die ..übersehene metaphysische und erkenntnistheoretische Grundlage
" (75) von Herders Geschichtsdenken will Marion Heinz. Wuppertal, aufmerksam
machen (Historismus oder Metaphysik '.' Zu Herders Bückeburger
Geschichtsphilosophie. 75-85).

Samson B. Knoll, Carmel, wendet sich dem kaum beachteten
Thema Herder und die Utopie zu (87-96). Er kommt zu dem
Schluß: „Utopie ist Zielsetzung an sich, nicht das sich jeweils
nach Zeit und Ort ändernde Ziel." (95), der impliziert, daß weder
das Universale noch das Individuelle im Herderschen Werk vereinseitigt
werden darf, daß geschichtliche Existenz, immer die
Spannung von ,Schon' und .Noch nicht' aushalten muß. Daß
Herder diese realistische Sicht der Geschichtlichkeit gerade
auch angesichts des ..innerbehördlichen Kleinkrieg(s)" (278)
durchhält, zeigt Regine Otto. Weimar, in Konflikte - Kompromisse
Korrekturen. Der Geschichtsphilosoph in Weimar (275-
288). Gerade weil dieser Beitrag die Geschichtsphilosophie
nicht explizit thematisiert, stellt er um so deutlicher heraus, daß
Herder die Spannung von ,Schon' und ,Noch nicht' eben nicht
nur theoretisch behauptet, sondern auch durchlebt und durchlitten
hat, daß „Herders geschichtsphilosophisches Denken... mit
der konkret historischen Entwicklung korrespondierte" (284).