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Ausgabe:

1995

Spalte:

817-819

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Bell, Theo

Titel/Untertitel:

Divus Bernhardus 1995

Rezensent:

Mennecke-Haustein, Ute

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817

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 9

818

Dogmen- und Theologiegeschichte

Bell. Theo: Divus Bernhardus. Bernhard von Clairvaux in
Martin Luthers Schriften. Mainz: Zabern 1993. IX, 418 S.
gr.8° = Veröffentlichungen des Instituts für europäische
Geschichte Mainz. Abt. Religionsgeschichte, 148. Lw. DM
98.-. ISBN 3-8053-1329.

Mehr als 500mal führt Luther Bernhard von Clairvaux im Laufe
seines Lehens in seinen Schriften an. Dieses Material trägt die
vorliegende Monographie zusammen und gibt zugleich eine
(auf 376 S.) sehr einläßliche Deutung. Der Autor will zu einem
ökumenischen Verständnis Luthers beitragen, das eher das
Gemeinsame denn das Trennende der Konfessionen zu betonen
sucht. Er fragt dazu, was Luther Bernhard verdanke (361) bzw.
wie dieser ihn beeinflußt habe (369). Dabei geht es ihm ebenso
um eine objektive theologische Nähe wie um die von Luther
eher subjektiv empfundene Nähe, darum, wie Luther Bernhard
versiand (14). Beides hätte m.E. auch im Hinblick auf historische
Wertungen deutlich auseinandergehalten werden müssen.

Das Material wird für die Untersuchung überwiegend, aber
nicht ausschließlich, chronologisch sortiert, so daß folgende
Kapitel entstehen, die Phasen der Bernhardrezeption mit z.T.
auch inhaltlichen Schwerpunkten entsprechen: Kap. I die Zeit
von 1505-1515; - Kap. 2 B.s Bedeutung für Luthers reformatorischen
Durchbruch 1515-1521 (Paulusexegese, 2. Ps.-Vl); -
Kap. 3 Auseinandersetzung mit der Ecclesia Romana; - Kap. 4
Diskussion um die Mönchsgelübde; - Kap. 5 B. in Luthers Predigten
; - Kap. 6 B. in Luthers Schriften nach 1521; - Kap. 7
Wer war B.? (Tischreden; das ..Leben Bernhards laut Luther").
Der Schluß faßt Einsichten und Thesen gut zusammen; ein
Register erfaßt die Bernhard-Zitate und eines die Lutherschriften
, in denen er zitiert wird. Die Einleitung gibt einen Überblick
über die bisherige Deutung von Luthers Verhältnis zu Bernhard
und eine Einführung in die Bernhard-Rezeption des Spätmittelalters
als das notwendige Bindeglied zwischen B. und L.

Die Gliederungsweise führt allerdings zusammen mit dem
Vollständigkeitsdrang nicht nur zu thematischer Disparatheit.
sondern auch zu inhaltlichen Überschneidungen und Wiederholungen
. Eine konsequentere thematische Anordnung, die zentrale
Zitate theologisch auswertet und auf „sonstiges" Material der
Vollständigkeit halber verweist, hätte eine Straffung ermöglicht.

Kap. 1 behandelt im wesentlichen Luthers Aufgreifen von
ITiemen der bernhardmischen theologia affectiva in der l. Psalmenvorlesung
: Anfechtung und Trost in den Wunden Christi.
Passionsfrömmigkeit, monastiseher profectus-Gedanke, Buße
als Gott zuvorkommendes Selbstgericht. Bernhard sei in seiner
Akzentuierung von Christi Menschsein und Leiden ein Wegbereiter
der reformatorischen theologia enteis gewesen.

Kap. 2 widmet sich Bernhards Anteil am reformatorischen
Durchbruch, den der Autor hoch veranschlagt. Luthers Rückgriff
auf Bernhard lasse auch nach der l. Psalmen Vorlesung
nicht wesentlich nach, obwohl der antipelagianische Augustin
und die deutsche Mystik nun stärker in sein Gesichtsfeld treten;
vor allem hätten die von Luther wiederholt zitierten Ausführungen
zum testimonium Spiritus (Rö 8.16) in Bernhards Predigt In
Annuntiatione I bedeutenden Einfluß auf dessen Entdeckung
der Heilsgewißheit und des persönlichen Glaubensverständnis-
s^'s gehabt und so ..entscheidend zum reformatorischen Durchbruch
beigetragen" (121 ). Ohne daß ich das an dieser Stelle im
Binzeinen ausführen kann, scheint mir auf der Basis des durchgeführten
Textvergleichs die weitreichende These nicht
schlechthin überzeugend belegt: weder wird deutlich, welchen
Stellenwert die benutzten Ausführungen im Rahmen von Bernhards
Glaubensverständnis bzw. im literarischen Rahmen seiner

Predigt insgesamt haben, noch werden auch auffällige Unterschiede
zwischen Bernhards und Luthers Diktion berücksichtigt
. Für die Beurteilung eines so komplexen theologischen
Zusammenhangs wäre m.E. eine ausgreifendere Textinterpretation
erforderlich gewesen.

Kap. 3: Nachdem L. sich zunächst noch auf Bernhards De
consideratione für das Recht auf Papstkritik berufen hatte,
mußte er sich nun auf der Leipziger Disputation dieselbe Schrill
zugunsten des päpstlichen Primats vorhalten lassen: Konsequenz
: seine Berufung auf die Schrift gegen die Tradition. Dies
spiegelt sich seit der 2. Psalmenvorlesung in einem veränderten
Umgang mit dem Kirchenvater: im einzelnen Kritik übend oder
zustimmend oder ihn häufig als Exempel benutzend, aber nie
mehr bemüht um den theologischen Nachvollzug seiner Gedanken
(vgl. 290). Das Urteil, daß er dennoch für Luther ..maßgebende
Autorität" geblieben sei (164), berücksichtigt den reformatorischen
Umgang mit diesem Wort wohl kaum.

In Kap. 4. perditus sed salvatus, wird das Deutungsmuster
dargestellt, das Luther entwickelt, um das Erbe, den Ertrag des
Lebens der (als Autorität destruierten) „heiligen" Väter theologisch
zu werten. Luthers letztlich lebenslang positive Haltung
gegenüber Bernhard gründet sich wesentlich auf dessen in die
Todesstunde verlegten Ausspruch perdite vixi, durch den ihm
Bernhard zum Paradigma christlichen Lebens überhaupt wird.
In dieser Selbstverurteilung (recht bald dezidiert auf das Mönchsein
bezogen, obwohl Luther andererseits noch die Möglichkeit
eines Lebens mit den Gelübden in Freiheit behauptet) sieht er
das gnadenhafte Festhalten am evangelischen Glauben nach
einem Leben in bester und frömmster Absicht, das dennoch in
den Irrtum geführt hatte.

In Kap. 5 werden die Predigten Luthers bis 1521 gesondert
betrachtet, weil die anzutreffenden Bernhardzitate sich „überwiegend
auf das Christusmysterium" und dessen Aneignung
im Glauben beziehen (280). Ks „läßt sich von einer tiefgehenden
Kongenialität im rein auf das Heil ausgerichteten Reflektieren
über den fleischgewordenen und leidenden Christus" als
Quelle für Gottes- und Selbsterkenntnis sprechen (284). trotz
der Unterschiede in der Christologie. Bell moniert die protestantische
„Phobie vor jeder Art von Mystik" (248) und will
„nicht von vornherein einen Trennungsstrich zwischen... einem
sog. mystischen Bernhard und einem unmystischen Luther" ziehen
(280. posiiiv auch 3531'.). sein Mystikverständnis ist jedoch
ziemlich vage (vgl. 248 Anm. 40). Andererseits habe Luther
aber Bernhard nicht als Mystiker, sondern als Frömmigkeitstheologen
gelesen.

Kap. 6 und 7 thematisieren neben schon Bekanntem: Gebet.
Marienverehrung, Fasten, Bernhard als Schriftausleger. Luther
rühmt Bernhard für sein Predigen des Gotteswortes. Seiner allegorischen
Bibelauslegung habe er Bewunderung und Kritik
(324) entgegengebracht und diese unter der Bedingung, daß sie
der wörtlichen Auslegung nicht widersprechen dürfe, selbst niemals
völlig verworfen; andererseits stehe sein Bestreben, die
Schrift durch sich selbst zu verstehen, in der Tradition einer
monastischen Erfahrungstheologie (43). - Die Väter müssen für
Luther mehr wegen ihres Glaubenszeugnisses als wegen ihres
Lehrzeugnisses verehrt werden (350). Das Interesse an ihnen
gilt weniger ihren wunderhaften Taten als dem wunderbaren
Handeln Gottes an ihnen, was meint: ihrem gnadenhaften Erhaltenwerden
im Glauben. Daß Luther mit dieser Sicht „trotz
seiner veränderten theologischen Auffassung des Heiligenideals
sicher noch innerhalb des Rahmens des überlieferten kultischen
Bernhardbildes" bleibe (358). ist mir allerdings fraglich.

Eindrücke dieser Art vermittelt B.s Buch verschiedentlich:
Seinen umsichtigen Lutherinterpretationen kann ich überwiegend
folgen; dort, wo diese dann aber bewertet, zugeordnet
werden sollen, werden die zuvor durchaus festgestellten Unterschiede
wieder relativiert. B.s These ist es denn auch, daß Lu-