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Ausgabe:

1995

Spalte:

795-799

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kertelge, Karl

Titel/Untertitel:

Grundthemen paulinischer Theologie 1995

Rezensent:

Hübner, Hans

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795

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 9

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pretation des paulinischen Begriffs ,Werke des Gesetzes' greift
H. nun insofern ein, als Paulus es grundsätzlich auf das Tun der
Torah, speziell auf die Einhaltung der Speisegebote beziehe
(168). Der in Gal 2,20d; 1 Kor 8,1 lc und Rom 14,15c gesetzten
Dahingabeformel kommt also als theologische Begründung der
Ablehnung der Speisegebote nach der These von H. ein enormes
Gewicht zu. Dies mag verwundern, weil ein direkter Bezug
von Dahingabeformel und Speisefrage von Paulus an keiner
Stelle hergestellt ist und die Formel in IKor 8,11 und Rom
14,15 vielmehr im direkten Kontext als Begründung der Bruderliebe
fungiert. Man muß daher fragen, ob die These von
Heil nicht übermäßig konstruiert ist.

a) M.E. wird der historische Sachverhalt simplifiziert, wenn es heißt:
„Nachdem das Jerusalemer kultische Heilssystem für die Christen keine
Bedeutung mehr hatte, ging der Diaspora-Missionar Paulus daran, auch die
daran gebundenen Halachot in den christlichen Gemeinden abzuschaffen"
(300). Judenchristen haben bis zum Fall des zweiten Tempels auch im Kontext
seines Heilssystems gelebt und auch Paulus hat nach Apg 16,3; 21,26
keinen grundsätzlichen Bruch vollzogen.

b) Es ist kritisch an H. die Frage zu richten, ob innerhalb des hellenistischen
Judentums Speisegebote immer in einem kultischen Bezug gesehen
wurden; dies ist die notwendige Voraussetzung der kulttypologischen Interpretation
. Der richtig beobachtete Sachverhalt, daß Paulus das Thema .Heiligkeit
' in den Speisegebots-Disputen nicht thematisiert, muß gegenüber der
kulttypologischen Interpretation zu denken geben (302). Hat nicht in der
Diaspora-Situation die Speisegesetzgebung als 'boundary marker' ein
Eigengewicht bekommen, welches den kultischen Bezug zurücktreten ließ?

c) Schließlich scheint Sanders' Argument, in der Diaspora hätten Juden
und Heiden Speisegemeinschaft gehabt (120). nicht dadurch in die Schranken
gewiesen werden zu können, daß in den Quellen eine systematisch begründete
Ablehnung der Speisegebote nicht ausgesprochen sei. Positiv gesprochen:
Ist die Speisegemeinschaft von Juden- und Heidenchristen in Antiochia. an
der Paulus und Petrus zunächst gemeinsam teilnehmen, nicht auch eine Fortsetzung
einer vorchristlichen Praxis von Juden und Heiden in Antiochia?

d) Die Mahlgemeinschaften Jesu mit Zöllnern und Sündern haben m.E.
einen weitreichenderen Einfluß gehabt, als H. zugibt. Gewiß beziehen sich
Paulus und die Apg nicht auf eine Ablehnung der Speisegebote durch Jesus,
nicht auf ein autoritatives Herrenwort wie Mk 7.15. Gleichwohl sind diesbezügliche
Ansätze für eine Relativierung der alttestamentlichen Speisegesetze
bzw. ihrer Halacha in der Synoptischen Tradition verschiedentlich
bezeugt und als Einfluß auf die antiochenische Gemeinde nicht auszuschließen
.

Diese Überlegungen sollen nicht in Frage stellen, daß das
Buch von H. in dem gegenwärtig forschungsgeschichtlich
Gebotenen ein Schritt in die richtige Richtung ist. Ob allerdings
die Ablehnung der Speisegebote durch Paulus auf dem Hintergrund
des vom Vf. sorgsam und mit Fleiß ausgebreiteten Quellenmaterials
ausschließlich und von Anfang an im Sinne des
kulttypologisch verstandenen Todes Jesu zu interpretieren ist,
soll angefragt sein.

Duisburg Friedrich Wilhelm Horn

Kertelge, Karl: Grundthemen paulinischer Theologie. Freiburg
-Basel-Wien: Herder 1991. 244 S. gr.80. Lw. DM 78,-.
ISBN 3-451-22188-8.

Hooker, Morna D.: From Adam to Christ. Essays on Paul.
Cambridge-New York-Port Chester-Melbourne-Sydney:
Cambridge University Press 1990. VIII. 198 S. 8». Lw. £
25.-. ISBN 0-521-34317-8.

Räisänen, Heikki: Jesus, Paul and Torah. Collected Essays.
Transl. from the German by D. E. Orton. Sheffield: JSOT
Press 1992. 286 S. 8° = Journal for the Study of the New
Testament, Suppl.Series 43. ISBN 1-85075-237-0.

Drei Aufsatzbände mit neutestamentlicher Thematik - ihre Autoren
darin einig, offene Fragen der neutestamentlichen Wissenschaft
zu beantworten; drei Bände, von hervorragenden und
international anerkannten Exegeten geschrieben. Und doch, es
liegen Welten zwischen ihren Ansichten! Schauen wir näher hin!

Ich gehe bei der vergleichenden Besprechung nicht chronologisch
vor, sondern bemühe mich um eine thematische Sequenz.
Als erster der drei Aufsatzsammlungen sei die von Karl Kertelge
vorgestellt. Die Überschrift „Grundthemen paulinischer
Theologie" ist zu Recht gewählt. K. geht es um Theologie. Und
es geht ihm in seinem theologischen Bemühen um zentrale
Inhalte der Theologie des Paulus. Das ist nicht verwunderlich.
Schon seine Münsteraner Dissertation, von Josef Gewieß angeregt
und nach dessen Tod von Joachim Gnilka betreut, hat ihn
auf diesen Weg geführt: „Rechtfertigung" bei Paulus. Studien
zur Struktur und zum Bedeutungsgehalt des paulinischen
Rechtfertigungsbegriffs (NA 3), Münster '1967, 21971. Sie ist
inzwischen Standardwerk. Keiner kann heute über die paulini-
sche Theologie arbeiten, ohne diese Dissertation zu Rate zu ziehen
. Der besondere Wert des hier nun zu besprechenden Aufsatzbandes
liegt darin, daß K. von seiner Paulus-Monographie
aus, geradezu in Verästelung seine Grundauffassung der paulinischen
Theologie verfeinernd und präzisierend, in den einzelnen
Aufsätzen dokumentiert, wie er immer tiefer in die theologische
Gedankenwelt des Apostels eindringt. Ich nenne nur
einige der Aufsatztitel mit Angabe des Jahres der Erstausgabe:

Das Apostelamt des Paulus, sein Ursprung und seine Bedeutung (1979):
Exegetische Überlegungen zum Verständnis der paulinischen Anthropologie
nach Römer 7 (1971); Das Verständnis des Todes Jesu bei Paulus
(1976); Der Ort des Amtes in der Ekklesiologie des Paulus (1986); „Natürliche
Theologie" und Rechtfertigung aus dem Glauben bei Paulus (1987):
Freiheitsbotschaft und Liebesgebot im Galaterbrief (1989): Rechtfertigung
aus Glauben und Gericht nach den Werken bei Paulus (1989).

Die Aufsätze des katholischen Exegeten K. zeigen, daß die
Paulus-Forschung da, wo sie wirklich das Zentrum seiner Theologie
bedenkt, Ökumene im eigentlichen Sinne des Wortes
praktiziert. Das aufmerksame Hören auf die theologische Stimme
des Neuen Testaments und sonderlich auf die theologische
Stimme des Apostels Paulus bringt die Konfessionen zusammen
. K. hat Exegese als theologische Aufgabe begriffen. Er hat
mit Kompetenz die paulinische Forschung weitergetrieben. Er
hat zu seinem Teil gezeigt, daß solche exegetische Forschung
unverzichtbarer Dienst an der Theologie ist. Dienst an der
Theologie ist aber - vorausgesetzt, man weiß, was Theologie
ist, nämlich kirchlich verantwortete Reflexion des Glaubens! -
Dienst an der Kirche.

Nur am Rande gesagt: Es erschiene mir als Beckmesserei,
wollte ich nun abschließend an einzelnen Stellen marginale Differenzen
zwischen K.s und meiner exegetischen Auflassung
aufzeigen. Also unterlasse ich dies guten Gewissens.

Das zweite der hier zu rezensierenden Bücher ist Mortui I).
Hookers, From Adam to Christ, eine Sammlung von Aufsätzen
über Paulus. Frau H. gehört zu den angesehensten Vertretern
der britischen neutestamentlichen Wissenschaft. Sie war auch
für eine Amtsperiode Präsidentin der Studiorum Novi Testa-
menti Societas. Vielleicht kann man sagen, daß ihre Sicht von
ntl. Wissenschaft, zumindest der Sicht der paulinischen Theologie
, in gewisser Weise typisch für die in Großbritannien betriebene
Exegese des Neuen Testaments ist. Freilich kann man ein
solches Urteil immer nur cum grano salis aussprechen. Insofern
ist ihre Paulus-Sicht zumindest von der in Deutschland üblichen
unterschieden, als sie die von der Rechtfertigung aus Glauben
her verstandene Theologie des Paulus, wie sie hierzulande von
Neutestamentlern beider großen Konfessionen vertreten wird,
nicht teilt.

Aufschlußreich ist bereits der einführende Abschnitt des
Buches. Frau H. weist darauf hin, daß die hier abgedruckten
Aufsätze in einem Zeitraum von über dreißig Jahren verfaßt
wurden: "No doubt my understanding of Paul's thinking has
changed and developed in the course of that time: I hope I am
closer to comprehending him than when I began, though I fre-
quently find myself baffled by him." Trotzdem, was den Unterschied
zwischen den frühen und den späteren Arbeiten von Frau