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Ausgabe:

1995

Spalte:

763-778

Autor/Hrsg.:

Krummacher, Christoph

Titel/Untertitel:

Das Evangelische Gesangbuch 1995

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763 Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 9 764

Christoph Krummacher
Das Evangelische Gesangbuch

1. Die Ausgangslage

Nach rund anderthalb Jahrzehnten Vorarbeit liegt es nun vor,
das neue Evangelische Gesangbuch (EG)*.1 Es ist das Ergebnis
eines langwierigen, stationsreichen und breit angelegten Meinungsbildungsprozesses
.2 Um 1970 waren erste (Text-)Revisio-
nen am Evangelischen Kirchengesangbuch (EKG) vorgenommen
worden, ein weiterführendes Modell der Kirchenmusikverbände
in beiden Teilen Deutschlands von 1978 zur umfassenderen
Revision des EKG war verworfen worden, daraufhin beriefen
EKD und BEK/DDR Gesangbuchausschüsse mit dem Auftrag
, ein neues Gesangbuch zu erarbeiten. Entsprechend der
damaligen Situation handelte es sich dabei um formal selbständige
Ausschüsse, die aber grundsätzlich nur gemeinsam arbeiteten
. Denn es war klar, daß auch ein neues Gesangbuch gesamtdeutsch
bleiben sollte - wer hätte zu träumen gewagt, daß der
Abschluß der Arbeit auf eine gänzlich veränderte politische und
kirchliche Situation treffen würde! An der Gesangbucharbeit
waren ebenfalls offiziell beteiligt die Evangelische Kirche A.B.
und H.B. in Österreich sowie die Kirche Augsburgischer Konfession
und die Reformierte Kirche im Elsaß und in Lothringen.
Die deutschsprachigen Kirchen der Schweiz und Rumäniens
(Siebenbürgen) sahen sich aus unterschiedlichen Gründen zur
Mitarbeit nicht in der Lage. Während das EKG seinerzeit auf
Veranlassung der kirchenmusikalischen Verbände von einem
kleinen Fachgremium erarbeitet und nach dem Krieg dann der
EKD „zur Verfügung" gestellt worden war, ist das EG von landeskirchlich
beschickten bzw. gesamtkirchlich installierten
Ausschüssen erarbeitet worden. In ihnen spiegelten sich die
konfessionelle und regionale Vielfalt der Landeskirchen (unter
Einschluß von Vertretern der Kirchenmusikverbände) wider.
Dementsprechend wurden Zwischenergebnisse mehrfach den
Auftraggebern mit der Bitte um Rückäußerungen vorgelegt:
1980 die Grundsätze für die Erarbeitung eines neuen Gesangbuches
. 1984 eine Vorläufige Liederliste (VL), 1986 ein Entwurf
für den Textteil, 1988 der Vorläufige Entwurf des Gesangbuches
(VE). Die einzelnen Stationen sind hier ebensowenig darzustellen
wie die Verschiebungen in den Reaktionen.Rückäußerungen
zum VE waren bis 1990 erbeten worden, im Februar
1991 wurde das Manuskript des neuen Gesangbuches auf
einer Plenartagung der Ausschüsse fertiggestellt. - Soweit die
äußeren Daten auf dem Weg zum EG.4

* Abkürzungen im Text: EKG = Evangelisches Kirchengesangbuch: EG =
Evangelisches Gesangbuch: GL = Gotteslob: GKL = Gemeinsame Kirchenlieder
: AOL = Arbeitsgemeinschaft Ökumenisches Liedgut.

1 Evangelisches Gesangbuch. Stammausgabe der Evang. Kirche in
Deutschland. Biblia-Druck. Stuttgart o.J. - Diese Ausgabe wurde den Synodalen
der EKD-Synode 1993 Ubergeben. Zum Reformationsfest 1993 führte
es die Ev. Kirche von Berlin-Brandenburg als erste Landeskirche in der
unveränderten Fassung ein. andere Kirchen folgten 1993/94, z.T. mit regionalen
Liedanhiingen bzw. Veränderungen im Textteil.

2 Zur Vorgeschichte und Entstehung vgl. aus der Fülle der Literatur: W.
Blankenburg. Aufbruch zu einem neuen Gesangbuch (Musik und Kirche -
im Folg. MuK - 1979, 213-221); Otto Brodde. Informationen. Fragen und
Gedanken zu einem neuen Gesangbuch (Der Kirchenchor. 1979, 57-61):
Hans-Christian Drömann. Unterwegs zu einem neuen Gesangbuch (MuK
1980. 54-59); ders., Die Arbeit am neuen Gesangbuch - ein Zwischenbericht
(MuK 1986, 165-175); ders., Das evangelische Gesangbuch - ein Werkstattbericht
(MuK 1991, 185-196); EKD-Texte 36 - Auf dem Wege zum neuen
Gesangbuch, hrsg. vom EKD-Kirchenamt Hannover o.J.; Wolfgang Fischer.
Wie ein Gesangbuch entsteht (ZdZ 1987, 146ff.); Luth. Liturg. Konferenz
(Hrsg.). Das künftige Evangelische Kirchengesangbuch. Kassel 1980.

Vgl. die in Anm. 2 gen. Aufsätze von H.-Chr. Drömann. Im einzelnen
lassen die Stellungnahmen der Landeskirchen u.a. auch erkennen, wie sich
im Laute der Jahre Interessen und Präferenzen verschoben haben. Dies aufzuarbeiten
wäre ein interessantes gesangbuchgeschichtliches Thema.
4 Vgl. Drömann 1991 (Anm. 2).

Worin lagen aber nun die inhaltlichen Gründe für ein derart
aufwendiges Unternehmen? Dem EKG, so gediegen es in hym-
nologisch-wissenschaftlicher Hinsicht gearbeitet war. war schon
frühzeitig seine Vorliebe für das Liedgut des 16. und 17. Jh.s und
seine weitgehende „Aussperrung" der Lieder des 19. Jh.s vorgeworfen
worden. Inhaltliche Defizite in bestimmten Themenbereichen
wie Nächstenliebe und Weltverantwortung der Christen
waren unübersehbar. Auch gegenüber Liedern des 20. Jh.s war
das EKG sehr zurückhaltend gewesen, aus Gründen, die hier
nicht zu erörtern sind. - Ausgehend von den Tutzinger Preisausschreiben
(seit 1960), motiviert durch Bemühungen um neue
Gottesdienstgestaltungen und neben anderem vor allem durch
die Kirchentagsarbeit, ist in den letzten Jahrzehnten eine kaum
noch zu überschauende Zahl neuer Lieder (Schätzungen sprechen
von ca. 6000) entstanden. Ungeachtet ihrer sehr unterschiedlichen
textlichen und musikalischen Qualität haben sie
sich unüberhörbare Verbreitung verschafft. Mit den nachkonzi-
liaren gottesdienstlichen Reformen in der katholischen Kirche
und dem katholischen Einheitsgesangbuch „Gotteslob" (GL)
sowie durch die „Arbeitsgemeinschaft für Ökumenisches Liedgut
" (AOL), deren Liedfassungen von den beteiligten Kirchen
offiziell rezipiert worden waren (vgl. vor allem „Gemeinsame
Kirchenlieder" - GKL). waren Tatsachen geschaffen worden,
an denen ein evangelisches Gesangbuch nicht länger vorübergehen
konnte. Schließlich wurden in den letzten Jahren immer
mehr Lieder aus den Kirchen der Ökumene bekannt (durch entsprechende
Liedsammlungen wie durch einzelne Übersetzer).
Durch sie wurde bewußt, wie einseitig unser Liedrepertoiiv nur
durch unsere eigenen deutschen Traditionen gespeist worden ist
und was uns durch diese Einschränkung entgangen ist. Durch
örtliche Liedersammlungen und durch tandeskirchliche Beihefte
war der Gebrauch des EKG zunehmend eingeschränkt, mancherorts
auch „unterwandert" worden. Kurzum: Die Zeit für
eine Sichtung des herkömmlichen Liedbestandes und eine Integration
der unterschiedlichen neuen Impulse war gekommen.
Und es war richtig, dies nicht mit der Zielstellung einer EKG-
Revision, sondern mit derjenigen eines neuen Gesangbuches zu
tun, weil sie den Gesangbuchausschiissen die notwendige Unbefangenheit
gab - unabhängig davon, ob man das nun vorliegende
Ergebnis als eigentlich „neu" oder nur als „erneuernd"
bewertet.

Die zu Beginn der Ausschußarbeit vorgelegten „Grundsätze
zur Erarbeitung eines künftigen Gesangbuches" sind hier nicht
zu diskutieren.5 Erinnert sei nur an einige Stichworte. Neben
selbstverständlichen Zielen (das Gesangbuch soll „zum Lob
Gottes in seiner Vielfalt einladen", es „darf nur Texte bieten,
die dem biblischen Glauben entsprechen" und „soll in Sprache.
Melodik und Rhythmik gemeindegemäß sein und künstlerischen
Ansprüchen genügen") waren Ziele genannt, die das Anliegen
des EKG ausweiten sollten: Das künftige Gesangbuch
soll als „Handbuch des Christen für den Gottesdienst", als „Laienagende
" dienen, ein „Gebrauchsbuch... für den Alltag" sein,
verwendbar „für viele Formen des Gemeindelebens", und
„einen Austausch vieler Glaubenserfahrungen und Frömmigkeitsformen
aus der Weltchristenheit ermöglichen".6 Durch
sein Verhältnis zu Geschichte und Gegenwart des Kirchenliedes
soll es schließlich auch die Zusammenhänge zwischen Kirchenlied
und allgemeiner Literatur- und Musikgeschichte spiegeln.

5 Vgl. Drömann. Grundsätze für die Arbeit an einem neuen Gesangbuch
(MuK 1980. 166-175).

6 Ebd.. 167.