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Ausgabe:

1995

Spalte:

55-57

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Titel/Untertitel:

Origins, time and complexity 1995

Rezensent:

Bosshard, Stefan Niklaus

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 1

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Das Buch bietet verschiedene Gesprächspunkte. Vor allem
sind es Fragen der Thomasinterpretation. 1. Vertieft ist die
Reichweite des theologischen Argumentes generell und die des
trinitätstheologischen insbesondere zu diskutieren. Die Denkform
des Doctor angelicus ist nicht die logische Deduktion,
sondern nachgehendes Verstehen. Es bedeutet ihm letzte Freude
, „von den höchsten Dingen auch nur in bescheidener und
unzulänglicher Betrachtung etwas erschauen zu können" (S.c.
gent. 1,8). Mit Recht erinnert der Autor an die Eucharistiefrömmigkeit
des Aquinaten (68-70). Verknüpft Simon diesen Hinweis
genügend mit der von ihm vermerkten heilsgeschichtlichen
Perspektive? Auf sie hat nicht zuletzt M. Seckler als
Strukturprinzip thomanischer Theologie aufmerksam gemacht.
Gerade dies ließe die trinitarischen Linien in der gesamten
Theologie des Aquinaten deutlicher wahrnehmen, in der Chri-
stologie, der Anthropologie und Gnadenlehre sowie im Tugendtraktat
(85). Thomas liefert nicht nur eine Trinitätslehre, sondern
trinitarische Theologie. 2. Die kulturhistorische Einordnung
der thomanischen Gotteslehre (152) bedarf der Überprüfung
, vor allem, wenn man das 12. Jh. mit seinen Sentenzen und
Summen sowie die zunehmende Aristotelesrezeption in Chart-
res und Poitiers mitbeachtet. Es ist zu eng, die Scholastik als
..Universitätstheologie" (24) zu kennzeichnen. Wie läßt sich da
die franziskanische Denkform unterbringen?

Ist ferner die These von J.-M. Garrigou, wonach das lat. pro-
cedere und das griech. ekporeuein nicht äquivalent sind (36),
derart weit rezipiert, daß sie einen so tragenden Akzent verdient
? Warum dann das aktuelle ökumenische Bemühen, das
lat. Filioque durch das griech. dia auszulegen? Überhaupt hätte
ein breiterer Blick auf die Literatur den Gedankengang in seiner
geschichtlichen Verästelung profilieren können. Ein Schönheitsfehler
: viermal (65 2x, 74, 87) begegnet die Wendung:
ultima statt ultimus finis.

S. hat Thomas v. Aquin in das gemeinsame Erbe der abendländischen
Theologie zurückgeholt. Das ist unbestreitbar von
ökumenischer Relevanz. Auch wenn er ihn gegen manche Vorgänger
nicht als Intellektualisten einordnet, so befragt er seine
Theologie und Gotteslehre doch mit konzentriert logischen
Kategorien. Dabei zeigt der Autor starke denkerische Kraft. Die
Geschichte, die Theologiegeschichte eingeschlossen, ist aber
zumeist differenzierter als ihre Verstehensprinzipien.

Vallendar Franz Courth

Philosophie, Religionsphilosophie

Coyne, George V., Schmitz-Moormann, K., and Ch. Wassermann
[Ed.]: Origins, Time and Complexity, 1 and II. Geneva
: Labor et Fides 1994. VII, 179 S. and XII, 318 S. 8° = Stu-
dies in Science Theology, 1 and 2. ISBN 2-8309-0743-4 and
2-8309-0742-6.

Nach den vorausgegangenen Konferenzen (1986, 1988, 1990)
fand 1992 in Rocca di Papa (Italien) eine weitere statt, an der
Forscher aus fast allen Bereichen der Natur- und Religionswissenschaften
bzw. Theologie und zahlreichen europäischen Ländern
in längeren Referaten oder kürzeren Statements Verbindungslinien
zwischen den Fachbereichen zu ziehen suchten.
Stellungnahmen von Naturwissenschaftlern sind in der Mehrzahl
, wobei insbesondere russische Teilnehmer mit betont religiösem
Interesse auffallen. Theologen und Philosophen unterschiedlichster
Provenienz unternehmen von der Gegenseite den
Brückenschlag. Insgesamt ist zwar ein Patchwork mit manchen
Überlappungen, aber nicht mit eigentlichen Gegensätzen und

Widersprüchen entstanden. Manche beschränken sich auf die
Wiedergabe eigener Forschungen, ohne den analytischen Ehrgeiz
der Auseinandersetzung mit den geistes- bzw. naturwissenschaftlichen
Fragestellungen.

Im Bd. I sind neun längere Beiträge vor allem zum Thema
Zeit und Komplexität aufgenommen (F. T. Arecchi, G. Basti,
A. Perrone, J. C. Courvoisier, G. Del Re, A. A. Grib, A. R. Pea-
cocke, J. C. Puddefoot, C. Wassermann, W. Welten). Viel
Gewicht wird auf die präzise Fassung der Begriffe gelegt,
wobei allerdings manche Autoren Definitionen vorlegen, die
von andern kaum aufgenommen werden. So schlägt Arecchi die
Ersetzung des Begriffs Selbstorganisation durch den der He-
teroorganisation vor, weil namentlich in der Physik die innere
Strukturierung eines Systems über große Strecken außengesteu-
ert ist, z.B. beim Bifurkationsprozeß, der wesentlich durch
systemfremde Faktoren entschieden wird (10).

Im Rückgriff auf klassische Autoren wie Aristoteles und
Thomas v. Aquin wird versucht, ein adäquates Zeitmodell zu
gewinnen und es metaphysisch zu verankern. In den Fragen der
Komplexität in nicht-linearen, gleichgewichtsfernen Systemen
herrscht - nicht nur im 1. Bd. - ein breiter Konsens über die
besondere Leistungsfähigkeit der holistischen Systemtheorie,
die als geeignet angesehen wird, die bereits aufgeweichten positivistischen
Arbeitsprämissen zu überwinden und ohne monistischen
(materialistischen, reduktionistischen) Einschlag fruchtbare
Lösungen im Zwischenfeld von Natur- und Geisteswissenschaften
zu erarbeiten. Besonders der Beitrag von A. R. Pea-
cocke gewährt einen vorzüglichen Einblick in die Bewegung,
die in das deterministische Verständnis der Natur gekommen
ist. Er unterstreicht jedoch, daß den Natursystemen ein „Hang
zu Komplexität" innewohnt, der durch Selektion in Gang gebracht
und gehalten wird. Es besteht eine starke naturale Neigung
in Richtung auf ein Wachstum an informationsverarbeitenden
Fähigkeiten, das nicht von vornherein mit der Evolution
des Bewußtseins korreliert ist (122f).

Das kosmologische „anthropische Prinzip" verdeutlicht dies,
indem es zeigt, wie (menschliches) Leben an die Koinzidenz
von mehreren, an sich sehr unwahrscheinlichen physikalischen
Eigenschaften gebunden ist, an „Zufälle" also, die in einer
merkwürdigen Häufigkeit zusammentreffen.

Kehrt Religion in ihrer allgemeinen Form damit wieder zurück
an die wissenschaftlichen Forschungsstätten? Wird Gott
zumindet als „Hypothese" wieder denk-würdig? Es scheint, daß
immerhin das Eis antireligiöser Vorurteile gebrochen ist und
die personalen und sozialen Werte, die zumeist mit der Erfahrung
von Transzendenz einhergehen, unter Naturwissenschaftlern
mehr Anerkennung finden als noch vor wenigen Jahrzehnten
.

Der 2. Bd. umfaßt in sieben Abteilungen insgesamt 46 kürzere
Statements, die fachspezifische Aspekte der Hauptthematik
großteils analytisch aufnehmen. Zahlreiche Bereiche der Naturwissenschaften
wie auch der Philosophie und der Religionswissenschaften
kommen auf einer freilich oszillierenden Reflexi-
onshöhe zu Wort. Doch ist das Bemühen mit Händen greifbar,
vielfach Unverbundenes zusammenzubringen, mitunter sehr
erfolgreich.

Im allgemeinen wird das Konzept der Komplementarität befürwortet
, das jedem Fachbereich seine Zuständigkeit in den
Fragen der Methodik und Hermeneutik beläßt und ihm im Ensemble
des Erkennens und Wissens einen eigenständigen Platz
einräumt, ein Fortschritt, der deutlich macht, wie sehr man sich
von einer eindimensionalen, monistischen Betrachtung der
Wirklichkeit entfernt hat. Die Postmoderne, die unter anderem
durch die Krise der (wissenschaftlichen) Vernunft gekennzeichnet
ist (11,51), befindet sich auf der Suche nach neuen letzten
Begründungsebenen für das verantwortliche Handeln. Die re-
duktionistische Methode wird dabei als gescheitert angesehen