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Ausgabe:

1995

Spalte:

718-720

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Theißen, Gerd

Titel/Untertitel:

Zeichensprache des Glaubens 1995

Rezensent:

Hermelink, Jan

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 7/8

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was sie sagt. Schließlich: die Ebene, auf der Verständigung
gelingen Lind Versprechen zugesagt werden soll, ist die Erfahrung
des Menschen, genauer: seine als christliche auszulegende
religiöse Erfahrung. „Religiöse Erfahrung gründet in spezifischen
Strukturen der Wirklichkeit, in Bedingungen menschlicher
Subektivität und Kollektivität. In der religiösen Erfahrung
kommt überhaupt erst Wirklichkeit hinsichtlich dieser ihr innewohnenden
Dimensionen zur Sprache... Christliche Erfahrung ist
Gotteserfahrung, und /war die Erfahrung des einen, letzte Wirklichkeit
darstellenden, personal gedachten Gottes... Religiöse
Erfahrung als christliche Erfahrung bedeutet auch die Erfahrung
davon, daß die letzte Wirklichkeit dem zugreifenden Erkennen
des Menschen verborgen ist..." (290/296).

Daiber lokalisiert seine Argumentation in sorgfältiger Aufnahme
einer großen Zahl anthropologischer und theologischer Theorietraditionen
. Die Rhetorik kommt von der klassischen aristotelischen
Ausprägung bis hin zur modernen Sprechakttheorie zur
Geltung, die homiletische Literatur von F. Schleiermacher bis zu
M. Josuttis, die theologische Debatte dieses Jh.s von Karl Barth
bis zu Paul Tillich. Es ist ganz deutlich, wo die Vorlieben des
Autors liegen: In theologischer Perspektive wird die Mitte in der
Tradition Tillichs lokalisiert, die häufige Anspielung Karl
Barths, besonders seines homiletischen Seminars von 1932,
bleibt eher legitimatorisch. Und mit der Anlage des Entwurfs,
Predigt als eine - wenn auch besonders herausgehobene, für die
Kirche identitätsbestimmende - Form der Kommunikation des
Evangeliums anzusehen, verortel sich dieses homiletische Werk
in der Wirkungslinie Ernst Langes. Gerade die gewisse Friedfer-
tigkeit, mit der hier Gesprächsfäden über theologiegeschichtliche
Gräben hinweg aufgenommen werden, kann als Explikation des
eigenen Ansatzes gelesen werden: Auch das Andere, gegenüber
der eigenen Position Fremde kann als besondere Auslegung religiöser
Erfahrung wahr- und ernstgenommen werden.

Insbesondere zwei Fragen sind an diesen Entwurf dennoch zu
richten. Sie hängen in gewisser Weise miteinander zusammen.
Seit dem etwa gleichzeitig mit diesem Werk erschienenen Gottesdienst
-Buch von Manfred Josuttis („Der Weg in das Leben...",
München 1991) muß die Frage nach der gottesdienstlichen Liturgie
als Ritual differenzierter gestellt werden als hier geschehen;
bei D. kommt der Ritualbegriff insofern ins Spiel, als die Predigt
;*ls „institutionsdominierter Sprechakt" eines Amtsträgers im (ic
Samtvollzug des gottesdienstlichen Rituals angesprochen wird.
Die in der gegenwärtig anthropologischen Ritualdiskussion lebendige
Frage, wie im Ritual als einer Ordnung das Andere von
Ordnung begehbar wird, bleibt ebenso außer Blick wie die von
'«suttis vor allem thematisierte Wahrnehmung des Rituals als
Verhaltenssequenz, als „Reise" in das Heilige. Die Frage nach
dem „Anderen" menschlicher Ordnungs- und Wahrnehmungs-
möglichkeit erscheint auch in dem von D. in Anschlag gebrachten
Verständnis von „Erfahrung" unterbewertet. Die biblische
Tradit ion und die kirchliche Überlieferung kommen in seinem
homiletischen Entwurf nämlich als Auslegung religiöser Grund-
und Schlüsselerfahrungen zur Geltung, nicht aber zuerst als ihr
Anderes. Gegenständliches, auch Widerständiges. Damit erscheint
aber nicht nur in theologischer („extra me - pro nobis"),
sondern auch in anthropologischer Perspektive zu wenig bedacht
, wie sich menschliche Erfahrung ohne Beziehung auf ein
ihr gegenüber Anderes überhaupt artikulieren könne.

Positiv hervorzuheben bleiben die als Exkurse angelegten
Tei le des Buches, die von Autoren der ersten beiden Teilbände
von „Predigen und Hören" verfaßt und auch verantwortet werden
. Wollgang Lukatis' ebenso erhellende wie teilweise erheiternde
Beschreibung des kommunikativen „Netzes" der Gemeinde
, in die der Prediger, die Predigerin eingebunden ist;
Beate Stierles Skizze der aktuellen psychoanalytischen und hermeneutischen
Symboldiskussion; und insbesondere Peter Ohne-
s°rgs ausgesprochen sorgfältiges und erhellendes Kapitel über

..Zeiterfahrung und Kirchenjahr". Hier wird die Frage gestellt,
wie die augenblicksorientierte religiöse Zeiterfahrung auf der
einen, die an jahreszeitliche Rhythmen und heilsgeschichtliche
Erinnerung gebundene zyklische Zeiterfahrung des Kirchenjahres
auf der anderen Seite in die abstrakte Zeit einer industriellen
Arbeitskultur einwandern könne - ein wesentlicher Beitrag der
kirchlichen Gemeinde zur Erhaltung und Rekonstruktion der
bedrohten und zerstörten Lebenswelt der Menschen

Paderborn Hans-Martin Gutmann

Theißen, Gerd: Zeichensprache des Glaubens. Chancen der
Predigt heute. Gütersloh: Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus
1994. 197 S. 8». ISBN 3-579-02068-4.

Mit der vorliegenden „kleinen Homiletik" (9) gibt Th. Rechenschaft
über die Prinzipien seiner eigenen, in bisher zwei Sammlungen
(1990/1994) dokumentierten Predigtpraxis. Da die Predigt
im Protestantismus das Zentrum der pastoralen Spiritualität
darstellt, soll der Blick auf die Chancen dieses Tuns Prediger/
innen neu motivieren, die Distanzen zwischen „Text und Leben
", Vergangenheit und Gegenwart, Selbst- und Heilserfahrung
unil schließlich auch zwischen Predigenden und Hörenden
zu verringern (vgl. 22f). Entstanden ist der anspruchsvolle Text
aus mehreren Vorträgen zum Verhältnis von Exegese und
Homiletik; und auf dieser hermeneutischen Fragestellung liegt
wohl auch das sachliche Schwergewicht.

In einer Einleitung entwickelt Th. sein Verständnis der Bibel
als Ausdruck und Basis eines bestimmten religiösen ../.eichen-
systems", das auf Dialog und Übereinstimmung mit einer letzt-
gültigen Realität zielt (21f). Die Predigt hat die Aufgabe, das
biblische Zeichensystem zu „reaktualisieren" und so neue
Chancen für jenen Dialog zu eröffnen (23). Damit ist ein argumentativer
Dreischritt von einem semiotischen Verständnis
des Glaubens über eine komplexe biblische Hermeneutik bis zu
konkreten homiletischen Gestaltungsmaximen gewonnen, der
mit je wechselnder Schwerpunktsetzung die fünf folgenden
Kapitel bestimmt.

Das erste Kapitel (27ff) versucht die hermeneutischen „Irritationen
", die sich etwa auf die Historizität oder die Normativität
biblischer Tradition beziehen, durch eine Unterscheidung zwischen
den konkreten Texten und ihrer „Tiefenstruktur" zu entkräften
.

Primärer Bezugspunkt des Glaubens wie der Predigt sind
zunächst die „Grundmotive" oder „Basisstrukturen" der „biblischen
Zeichensprache". Ohne Anspruch auf Vollständigkeit
skizziert Th. 15 dieser Motive, so etwa das „Schöpfungsmotiv":
„Alles ist wie aus dem Nichts geschaffen... Die ex nihilo schaffende
göttliche Macht ist in jedem Augenblick wirksam und
tritt mitten in der Geschichte in der Auferweckung Jesu aus
dem Nichts des Todes hervor." (30) Ähnlich werden auch die
anderen Motive (z.B. Weisheits-, Exodus-,Gerichts- oder Rechtfertigungsmotiv
) als Deutungsregeln für die Wirklichkeit begriffen
, deren Sinn sich jeweils am klarsten in der Erscheinung
Jesu zeigt und die insgesamt auf das „Meta-Axiom" des ersten
Gebotes, auf die Selbstoffenbarung Gottes bezogen sind. Auf
den hier zu findenden „Geist der Bibel" verpflichtet Th. auch
die Predigt; indem sie sich dieser „biblischen Grammatik"
bedient, wahrt sie einerseits die christliche Identität und kann
jene „Basisnormen" andererseits in großer Freiheit variieren.

Daß damit die konkreten Texte nicht an Bedeutung verlieren,
macht Th. im zweiten, umfangreichsten Kapitel klar (47ff). das
- im Anschluß an Ricoeur und M. Leiner - eine biblische
Hermeneutik des „offenen Textes" entfaltet. Einer überaus informativen
Skizze verschiedener Auslegungsweisen entnimmt
Th. die homiletisch provokante Forderung eines „neuen PH-