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Ausgabe:

1995

Spalte:

701-703

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Weidhas, Roija F.

Titel/Untertitel:

Konstruktion - Wirklichkeit - Schöpfung 1995

Rezensent:

Bosshard, Stefan Niklaus

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 7/8

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Machbarkeit eines solchen .Projekts Omega"? Viele technische
Einwände, die dem Leser in den Sinn kommen, hat der Vf.
schon bedacht und zu entkräften versucht (z.B. die molekulargroßen
Reparateure relativistischer Raketen [585]). Und man
sollte wohl die Fähigkeiten des Lebens nicht unterschätzen.
Wenn das Leben von den Einzellern im Urozean bis zum Mann
auf dem Mond fortschreiten konnte, warum soll es nicht das
Weltall besiedel n und beherrschen? Eher ergeben sich ethische
bedenken: Wenn das Omega-Projekt möglich ist, muß es dann
nicht unter allen Umständen verwirklicht werden? Informatik,
Gentechnologie, Energetik und Weltraumtechnologie hätten
dann absolute Priorität vor allen anderen Problemen der
Menschheit. Auf dieses einzig notwendige Projekt wären ab
sofort alle Ressourcen der Menschheit zu konzentrieren - koste
es. was es wolle. Droht hier technische Voraussicht humane
Rücksicht zu verdrängen? Dieses diktatorische Moment unterscheidet
technokratischen Chiliasmus von theologischer Escha-
tologie.

Für den Christen entscheidend aber ist die Frage nach dem
Omegapunkt und der Wünschbarkeil der dort eintretenden Vollendung
.

Wenn der kybernetische Himmel zwar Sex „mit der schönsten
aller Frauen" bietet (immerhin gewann auch Faust die Helena!)
und Tourismus in die ..Privatuniversen" erlaubt (auch Faust
machte eine Reise - in die klassische Antike!), aber die beseligende
Schau und das Lob des Gottes mit dem menschlichen Antlitz
Christi (vgl. die mystischen Menschen- und Engelchöre im
'Faust'!) von den auferweckten Menschen als „qualvoll langweilig
" empfunden und vom Omegapunkt gar nicht gewollt würden
(3Uff.) - dann sollte man die Toten besser ruhen lassen.

So hinterläßt die Lektüre dieses ungemein interessanten, physikalisch
und theologisch aufschlußreichen Buches doch den
Eindruck, daß es vorerst besser ist. die klassische Theologie
v°n der modernen Physik solange getrennt zu halten, bis eine
beide übergreifende und konsistente Semantik ihrer Begriffe in
Sicht ist. Kant hatte wohl doch so Unrecht nicht, wenn er die
Begriffe Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zu regulativen Ideen
erklärte, damit weder die Physik sie reduktionistisch noch die
Theologie sie spekulativ vor dem Ende aller Dinge in den Griff
bekämen.

Berlin Hartmut Genest

Weidhas. Roija Friedrich: Konstruktion - Wirklichkeit -
Schöpfung. Das Wirklichkeitsverständnis des christlichen
Glaubens im Dialog mit dem Radikalen Konstruktivismus
unter besonderer Berücksichtigung der Kognitionstheorie H.
Maturanas. Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien:
Lang 1994. IV, 283 S. 8« = Europäische Hochschulschriften.
Reihe Theologie, 506. ISBN 3-631-47198-X.

W.s Doktorarbeit an der Martin-Luther-Universität in Halle
steckt sich das Ziel, den Konstruktivismus H. Maturanas u.a.
für die evang. Theologie fruchtbar zu machen. Glauben und
* erstehen sollen auf dem Gebiet der Schöpfungs- und Offenbarungstheologie
, fokussiert auf das christliche Wirklichkeitsver-
ständnis, hermeneutisch miteinander verzahnt werden. Durch
Kritik der in eine schwere Krise geratenen aufklärerischen
Vernunft treibt der Autor in gewissem Sinn das Entmythologi-
sierungsvorhaben Bultmanns weiter, indem er - sozusagen in
einem Phasenwechsel - versucht, nach einer neuen Methodik
biblische Botschaft und vernunftkritisches Denken zu vermitteln
(8f).

In der Darstellung des Radikalen Konstruktivismus (RK)
*ird zunächst deutlich, daß keine neue Weltanschauung frühe-
re> veraltete ersetzen soll. Line empirisch-wissenschaftliche

Theorie, jenseits des Subjekt-Objekt-Dualismus, soll auf naturwissenschaftlicher
, vornehmlich kybernetisch-neurophysiologi-
scher Grundlage (37f) die abendländische Philosophie und ihre
ontologischen Aussagen relativieren und ein Ensemble konstituieren
, das als selbstreferentielles System Seins- und Wahrheitsaussagen
obsolet macht. Die Erkenntnisfühigkeit wird auf
neurophysiologische Voraussetzungen reduziert und Wirklichkeit
als eine Konstruktion des Subjektes und des Bewußtseins
dargestellt. Manche klassischen Problemstellungen werden
durch diesen Radikalschnitt, zu dem nicht zuletzt Philosophen
wie Kant und Wittgenstein inspiriert haben, gegenstandslos und
können beiseite gelassen werden. „Alteuropäische" Traditionen
sind wertgeleitet und können dem RK keinen Fluchtpunkt bieten
. Die zeitgenössischen Gestalten dieser Traditionen ignorieren
den RK denn auch ihrerseits, u.a. weil sie ihre Themen nicht
auf naturwissenschaftlicher Ebene verhandelt sehen wollen.
Auf Seiten der Theologie gibt es ebenfalls kaum Versuche
ernsthafter Auseinandersetzung.

W. ist sich der Schwierigkeit bewußt, auf einer Basis, in der
Ontologie in Epistemologie und Autopoiese aufgegangen ist.
systemexterne Wirklichkeit, z.B. Gott, angemessen zu würdigen
. Er versucht deshalb in der Auseinandersetzung mit vorliegenden
Interpretationen einige vermittelnde Aspekte des RK zu
extrahieren, etwa wenn er ihm einen latenten Realismus bescheinigt
. Andererseits stellt er im Durchgang durch die ethischen
Konsequenzen fest, daß sich eine rein konstruktivistische
Perspektive praktisch nicht durchhalten läßt und der RK letztlich
seine eigene Relativität begründet, ja daß er sogar zynische
Züge hat. Von diesem ambivalenten Grundstock trägt W. sodann
konstruktivistische Elemente in die evang. Theologie hinein
. Er verweist zunächst darauf, daß christliche Theologie
nicht ihre Grundlage, wohl aber ihren „Ort" zwischen Metaphysik
und Mythologie hat und beiden kritisch verbunden ist (/it.
172). In der Folge erkennt er in der Theologie Karl Barths einen
richtungsgebenden Typus, weil dieser die Theologie als Funktion
der Kirche sieht und damit auch die Gotteserkenntnis kirchlich
präformiert sein läßt.

In der Hinwendung zum Alten ins Neue Testament findet der
Autor eine Rechtfertigung und Veranschaulichung insbesondere
der konstruktivistischen Transformation der Seinskategorien
in Handlungs- bzw. Funktionskategorien. Metaphysische Sätze,
soweit sie vorgegeben sind, können als sprachliches Medium
der Offenbarung angenommen werden, selbst jedoch sind sie
nicht Offenbarung. Gott, der Teil der Wirklichkeit ist, sie aber
als feil, d.h. ihr Grund, beherrscht, kann so als „Substrat" für
Interaktion überhaupt und das Hervorbringen ins Gespräch
kommen, wobei das analoge Verhältnis zwischen Schöpfer und
Geschöpf erhalten bleibt.

Im Raum des Glaubens wird Objektivität und Wirklichkeit
durch die Kirche, bzw. durch die Gemeinde konstituiert, insofern
Menschen durch sprachliche Interaktion zueinander in
Beziehung treten. Das klassische dreigliedrige Wirklichkeitsverständnis
(Gott-Mensch-Welt) führt W. in ein konstruktivistisches
zweigliedriges (Ich-Objekt) über in der Absicht, das zeitgenössische
Denken zu entmythologisieren und dem biblischen,
theologisch zu deutenden Weltbild Geltung zu verschaffen
(228). Anwendungen finden sich in den Abschnitten über das
Sprechen, Lesen, Hören und Schreiben, über den Umgang allgemein
mit Texten und über die Bibel-Rezeption der Gemeinde
. Die Dissertation laßt überaus viele Themen, teils in Exkursen
, zusammen. Zu viele, wie einem vorkommt. Eine entschlossenere
Konzentration auf die Hauptlinien, konsequent durchgezogen
und an wenigen Beispielen illustriert, wirkte eindrücklicher
. Der Autor sah sich wohl dazu veranlaßt, weil er sich nicht
auf vertiefte Auseinandersetzungen seitens der ..alteuropäischen
" Philosophie oder ihrer zeitgenössischen Gestalten mit
dem RK stützen konnte und deshalb neben der theologischen