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Ausgabe:

1995

Spalte:

692-694

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kirk, Geoffrey S.

Titel/Untertitel:

Die vorsokratischen Philosophen 1995

Rezensent:

Körtner, Ulrich H. J.

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 7/8

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Hat der Logos im Eros jene partialisierte Existenzform loziert,
die zu regenerierter Ganzheit strebt, kann er die von ihm entdeckte
polar-teleologische Struktur durch variable metaphysische
Gegenpositionen besetzen, z.B. Sinnlichkeit - Logos, Selbst
- Gott. So steht die Dichotomie, die im Aristophanesmythos eine
operative Maßnahme war, als Modellstruktur für metaphysische
Substitutionen zur Verfügung (17). Dasein durchschaut seine
Spaltung in Logos und Eros vermittels des Logos selbst und
extrapoliert sie auf eine grundsätzlichere Differenz /wischen
Selbst und Gott hin und fragmentiert sich so im Logos selbst.

In der christlichen Rezeption liegt im Willen der Ursprung
der Fragmentarität (Individualität). Die Differenz von Logos
und Eros wird zum radikalen anthropologischen Widerpart von
Willen und Selbsterkenntnis gesteigert. Sofern der Wille Selbsterfüllung
in sinnlicher Repräsentanz des Gewollten findet, seine
Selbstbestimmung also unbedingte Selbstbezüglichkeit wird,
tritt er in aboluten Gegensatz zum Logos, der ohnmächtig das
Verfehlen des wesenseigenen Zieles konstatiert. Mit der pauli-
nisch-augustinischen Fortsetzung des platonischen Mythos tritt
also ein Paradigmenwechsel ein, in dem der Wille den Menschen
und seine Stellung zu Gott bestimmt. Die paradigmatische
Umbesetzung der mythischen Dichotomie führt zu jener
am Christentum beklagten Abwertung der Leiblichkeit gegenüber
dem Geist (32).

Hier sollte eingehalten werden. Es war doch Augustin, der
gegen den Neuplatonismus die Materialität der Schöpfung als
Bonum verteidigte (worin Blumenberg die epochale erste Überwindung
des gnostischen Dualismus sah). Der Wille als aktua-
les Selbst ist ein relationaler Reflexionsbegriff, der sich erst
dann fragmentiert, wenn er seine kreatürliche Außendimension
vergißt und sich in ein hermetisches Selbstwollen verschließt.
Von daher ermöglicht Gotteserkenntnis bei Augustin immer
auch Schöpfungserkenntnis. Hier tritt die methodische Schwäche
des Buches merklich zutage: Wenn der erste Teil die ideengeschichtliche
Explikation eines strukturellen Grundmythos
von fragmentierter Existenz sein soll, müßte der Leitbegriff
anfangs wenigstens umgrenzt werden; denn er steht in Konkurrenz
zu anderen anthropologischen Konzepten wie Endlichkeit,
Relationalität, Exzentrität, Leiblichkeit, ontologische Differenz.
Gerade bei Augustinus zeigt sich, daß Relationalität nicht eo
ipso Fragmentierung bedeuten muß.

Diese methodische Kritik läßt sich noch weiterführen. Wer Fragmentarität
der Existenz hört, assoziiert doch jene epochale Kulturklage der senti-
mentalischen Poelologie, wie sie von Hamann und Schiller begonnen und
von der Romantik aufgenommen wurde. Kunst wird poetologisch Fragment
, Dasein Entfremdung; der metaphysische Paradigmenwechsel, der
Selbstheit in den transzendentalen Einheiten von Raum, Zeit und Urteil
manifestiert sieht, betreibt die beklagte Entzauberung der Welt, jene Amputation
der ästhetischen Sinnhaftigkeit des Daseins zugunsten seiner logosrationalen
Disziplinierung. Wer also Fragmentarität /um Leitbegriff einer
diachronen Untersuchung wählt, muß sich fragen, inwiefern die roman-
tisch-sentimentalische Kritik und ihre immer noch gegenwärtige Brisanz
die Expertise mitbestimmt und unter welchen Bedingungen es statthaft ist,
über jene epochale Zäsur hinweg die Konstanz einer anthropologischen
Struktur ZU behaupten, deren historische Bedingtheit ihre Universalisierung
wenigstens problematisch macht.

Vor diesem kontinentalen Hintergrund wäre der - unterlassene - Vergleich
mit einer andersmöglichen Genese moderner Entfremdung reizvoll
gewesen. F. beobachtet in der puritanischen Rezeption der dichotomisierten
Selbstheit eine Entwicklung, die das Selbst zunächst in die forensische
Seibstverneinung coram Deo treibt, wobei sich diese Selbstverurteilung
(Self-trial, 47) bald in einen Modus der Selbstkontrolle und -dis/.iplinierung
wandelt. Vom 19. Jh. an erfolgt eine Umbesetzung der Kontrollinstanz,:
Nicht die durch das Gotteswort geweckte Vernunft domestiziert das Selbst,
sondern der gesellschaftliche Konsens, in den der Mensch hineingeboren
wird. Hieraus ergibt sich ein Konfliktpotential zwischen dem individuellen,
aus dem sozialen Umfeld erwachsenden Anspruch auf Selbstrealisierung
und dem vorgeschriebenen Diskurs qua Rollenerwartung. An dieser Stelle
entwickeln sich aus der Tradition erhebbare Modifikationen der Selbstent-
fremdung im sozialen Rollenfeld (75). Eine bemerkenswerte Parallelkonstruktion
zu Webers genetischer Deduktion des Kapitalismus aus der refor-
matori sehen Sozio-Theologie!

Der zweite poetische Teil geht ebenso ideengeschichtlich
vor: Nicht dichterische Menschenbilder sind das unmittelbare
Sujet, sondern die poetische Modifikation philosophischer oder
pathologischer Anthropologismen. Die Poetik hat in dieser
Sache kein originäres Eigenrecht, sondern ist stets Reaktion auf
Vorgegebenes (103). Dennoch tritt ein solches Eigenrecht implizite
ein, sobald die Verbindung zwischen Teil und Ganzem,
weltseitiger Immanenz des Daseins und göttlicher Transzendenz
, durch eine ästhetisch intensivierte Anreicherung der er-
steren locker wird, so daß die heilsgeschichtliche Relation von
Fragmentarität und Ganzheit sich löst (135). Man kann daher
die nachfolgenden poetischen Paradigmen von Shakespeare
über Sterne bis Huxley rubrizieren unter dem Versuch, die
weltimmanente Mannigfaltigkeit in eine Lebensweltliche, indi-
vidualitätszentrierte Ordnung zu transformieren. Fragmentarität
tritt von vorneherein als Parteilichkeit in anthropologischen,
individuellen wie soziologischen Strukturen auf; der Dichter
erschafft und entlarvt zugleich jede geschaffene Sinnordnung
als tragischkomische Täuschung einer Ganzheit, die jene oppo-
sitäre Fragmentarität dauerhaft umgreifen könnte. Gerade bei
Shakespeare und Sterne erkennt F., daß der Dichter sein Werk
als göttliches Substitut einer regenerierten Totalität vorstellt,
den ontologischen Status dieser regeneratio ad integrum zugleich
autopoietisch als Fiktion entlarvt (176ff; 1940- Dichtung
übergreift das Fragmentarische und bewahrt es in ihrer fiktiona-
lisierten Totalität, die zugleich selbst endliches Werk ist. Die
genauere Explikation der Transzendenz poetischer Formen hätte
deutlicher gemacht, was Dichtung zur Modernitätskritik ermächtigt
. F.s Stärke liegt aber mehr in der Darstellung (weniger
in der poetologischen Durchführung), wie Blake, Dickens,
Huxley oder Durell hinter dem logifizierten Einheitsschein
gesellschaftlicher Systeme und ihrer selbstapologetischen
Rationalität die Tendenzen der Entfremdung, Zersplitterung
ihrer Teilhaber episch aufbereiteten (210; 214ff; 252ff). Die
letzten poetischen Paradigmen stellt F. daher konsequent als
bewußt gemachte Remythisierungen vor, die zugleich eine poe-
tologische Theorie implizieren, daß Dichtung das ohnmächtige
Erstgeburtsrecht des Wortes habe vor allen logozentrischen
Rationalisierungen. Hier hätten kontinentale Sprachspiele klärend
wirken können, z.B. die Nietzsches oder der Dichter des
Expressionismus.

Insgesamt ist das Buch ein interessanter Versuch, philosophisch
-literarische Traditionen unter einer wesentlichen Kategorie
zu perspektivieren. Trotz der angegebenen methodischen
Lücken entdeckt die Untersuchung von F. innovative paradigmatische
Verschiebungen und institutionelle Umbeset/ungen
innerhalb einer als formkonstant angenommenen anthropologischen
Existenzstruktur (99).

Heidelberg Gerd Theobald

Kirk, Geoffrey S., Raven, John E., u. Malcolm Schofiele: Die
vorsokratischen Philosophen. Einführung, Texte und Kommentare
. Übers, von K. Hülser. Stuttgart-Weimar: Metzler
1994. XXII, 560 S. gr.8°. Lw. DM 58.-. ISBN 3-4760-0959-9.

Das bisher nur in englischer Sprache erhältliche Werk von Kirk,
Raven und Schofield, dessen erste Auflage 1957 erschien, gilt
international als Standardwerk /ti den sogenannten Vorsokrati-
kern. Es ist dem Verlag Metzler zu danken, daß dieses Werk
nun in einer deutschen Übersetzung zugänglich ist. die Karlheinz
Hülser besorgt hat, welcher durch eigene Arbeiten zur
griechischen Philosophie sowie durch seine sonstige Herausgeber
- und Übersetzertätigkeil (Piaton, Stoiker) ausgewiesen ist.

Die 1. Aufl. des vorliegenden Standardwerkes stammt von
Kirk und Raven und wurde mit kleineren Korrekturen vielfach