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Ausgabe:

1995

Spalte:

686-687

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Ruster, Thomas

Titel/Untertitel:

Die verlorene Nützlichkeit der Religion 1995

Rezensent:

Nowak, Kurt

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 7/8

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sehen Verbindungen im 19. Jh. nach (Stipendiaten in Berlin, einzelne
Pfarrerkontakte. Diasporaförderung durch den Gustav-
Adolf-Verein. Kollektenreisen eines Waldensers, Evangelisati-
onsvereine für Italien, die Neubelegung des historischen Interesses
für die Kirche der Vorfahren der um 1700 in Deutschland
angesiedelten Waldenser, die freilich im 19. Jh. langst unterschiedslos
in ihren deutschen Landeskirchen aufgegangen waren:
Es gibt m.E. seitdem kirchlich und historisch keine „Deutschen
Waldenser" mehr, auch wenn sie sich in Zeitschriften so nennen.
Die neuen Anknüpfungen sind etwas ganz anderes.)

Historisch interessant ist das deutsche Echo auf die inneren
Konflikte der im ganzen fehlgeschlagenen Evangelisation Italiens
seit dem Risorgimento. die sich im Gegensatz waldensisch-
ethnischer Konservativität und der missionarischen „italienischen
Freikirche" zeigten. Der Abbruch der Beziehungen von
Deutschland aus am Anfang des l. Weltkrieges wegen der in
Kirchenzeitschriften geäußerten - nur zu berechtigten - Kritik
am protetantischen Kriegspathos in Deutschland wird noch zu
apologetisch dargestellt. Bei der folgenreichen Wiederanknüp-
tung nach dem Kriege spielten der Gustav-Adolf-Verein und
die dialektische Theologie sowie der Kampf der Bekenntniskirche
eine hier nicht genügend ans Licht gestellte Rolle für die
Formung der jungen italienischen Theologen, die die zweite
Nachkriegsgeschichte in der Waldenserkirche prägen sollten.
Die Partisanenzeit 1943-1945 und die Rückzugskämpfe der
Wehrmacht haben den Neuanfang nach 1945 weniger belastet
als der 1. Weltkrieg, weil eine starke Verbindung zur neurefor-
matorischen und dialektischen Theologie entstanden und der
deutsche Nationalismus diesmal gebrochen war.

Auf der Darstellung der erstaunlichen Beziehungen deutscher
kirchlicher Institutionen (Gustav-Adolf-Werk, Evangelischer
°und), Landeskirchen, regionaler Freundeskreise zur Waldenserkirche
seit 1945 liegt das Gewicht der Arbeit. Hier werden
Z;ihl- und umfangreiche Finanzhilfen aufgeführt, aber auch Pri-
V;'tkontakte, „Pilger"- und Touristenfahrten. Eine historische
Abschätzung ist nicht möglich, weil hierzu eine Analyse des
Gesamthaushaltes der Waldenserkirche nach Eigenaufkommen
Und ausländischen Kirchen (die das deutsche Spendenvolumen
sicher weit übertreffen) gehören würde.

Es fehlt der Arbeit an einer Perspektive, die diese Periode der
europäischen und darin auch der deutsch-italienischen Kirchengeschichte
auf erste Begriffe brächte. Wohlstand. Neuanfang,
Europäisierung, Italienboom, Ökumenismus, aber auch rninder-
heitskirchlichc Sehnsüchte einer erst wachsenden, dann
krumpfenden deutschen Volkskirche böten sich an. Die starken
inneren Konflikte der Waldenserkirche und ihrer Generationen
, von denen Valdo Vinays „Storia dei Valdesi" (1980) mit
eindeutiger Parteinahme berichtet, erscheinen zwar in einzelnen
Bezugnahmen, werden aber nicht anschaulich. So ist dies in sei-
iem Hauptteil noch keine historische Arbeit, sondern eine (auf
Archivstudien beruhende) Materialsammlung mit z.T. interessanten
Beispielen. Die Bedeutung der Theologischen Walden-
serfakultät in Rom als ökumenischer Bezugspunkt für die protestantischen
Kirchen (und einen Teil des italienischen Katholi-
"snuis) sowie für die Prägung sehr vieler Studenten aus vielen
Ländern, darunter aus Deutschland, bleibt so gut wie uner-
wähnt. - Das Geleitwort des derzeitigen Präsidenten des Evangelisehen
Bundes, Hans-Martin Barth, erklärt: ..Nur wenn man
S|e mit Gott in Zusammenhang bringt, wird diese Geschichte
verstehbar." Das verstehe wer kann. ..Die Waldenser-Kirche
stelltden bundesdeutschen Stil von Kirche und Kirchlichkeit in
Frage." Diese Arbeit zeigt, daß sie zugleich für ihre Aktivität
der Finanzen - der Liebe der Landeskirchen und Freundeskreise
! - bedurfte. „Reiche" und arme Kirche sind in Zusammenhing
zu sehen!

Berlin Kurl-Victor Selge

Rüster, Thomas: Die verlorene Nützlichkeit der Religion.

Katholizismus und Moderne in der Weimarer Republik.
Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 1994. 421 S.
gr.80. ISBN 3-506-7738 l-X.

Diese Bonner Habilitationsschrift von 1993 beschäftigt sich mit
dem „Spektrum der Deutungsversuche und Lösungsansätze im
Konfliktfeld Katholizismus und Moderne", wie es sich bei namhaften
katholischen Theologen und Intellektuellen im Deutschland
der Weimarer Repbulik darbietet (13). Behandelt werden
u.a. Romano Guardini. Karl Adam, Joseph Wittig, Odo Casel.
Erich Prz.ywara. Max Pribilla, Theodor Haecker. Die Behandlung
so zahlreicher Denker ist nur anhand einer systematischen
Leitthese möglich und sinnvoll. An ihr läßt es der Vf. nicht fehlen
, ja er macht bereits mit dem Titel seines Buches auf sie aufmerksam
. „Die Suche nach der verlorenen Nützlichkeit der Religion
war das geheime Grundmotiv der römisch-katholischen
Theologie in der Zeit der Weimarer Republik. Das ist die These
dieser Studie" (11). „Verlorene Nützlichkeit" ist ein Begriff, der
Spannung erzeugt, doch zur Unscharfe tendiert. Er meint das
Problem, in den Pluralisierungsschüben der Moderne die Evidenz
des christlichen Glaubens zu erweisen und die prinzipielle
Überlegenheit christlicher Daseinsentwürfe und Weltbilder darzutun
. Was war das „Wesen des Katholizismus", was das ..unterscheidend
Christliche" im Feld miteinander konkurrierender
Weltanschauungen (390)'.'

Gegliedert ist die Studie in sieben Kapitel. I. ..Voranzeige: Zur Problemstellung
. These und Methode" (13-33). II. „Wandlungen im Verhältnis von
Glauben und Leben" (35-69). III. „Der Katholizismus in der Weimarer Repbulik
- ein Überblick" (71-112). IV. „Der Katholizismus und seine Theologie
vor neuen Herausforderungen" (113-179). V. „Katholische Religion und
moderne Welt - was denken die Theologen?" (181-353). VI. „Die Nützlichkeit
römisch-katholischer Religion in der Moderne: Grundfiguren der theologischen
Problemlösung" (355-386). VII. „Relecture" (387-401).

Der Kern der Studie, der zugleich ihr umfangreichstes Kapitel
ist (Kap. V). wurde mithin in grundsätzliche systematische
Erwägungen eingebettet (Kap. [, II. IV. VI), doch auch der zeit-
historischen Perspektive gab der Vf. Raum (Kap. III). Aus der
Sicht des Kirchenhistorikers erscheint „Der Katholizismus in
der Weimarer Republik - ein Überblick" allerdings als wenig
ausgereift. Das geistesgeschichtliche Apercu überwiegt. Auch
vermißt man die Kenntnis wichtiger Literatur. Unverständlich
ist, warum sich der Vf. bei seinem Verweis auf das Reichskonkordat
von 1933 ausgerechnet auf die veraltete, zudem einseitige
Monographie von G. Lewy bezieht (103, Anm. 141). Der Vf.
ist, w ic aus seinem Buch von der ersten bis zur letzten Seile und
selbst noch aus der Widmung - „Für Frau Anca Witt ig" - hervorgeht
, ein kritischer Katholik. Kritischer Katholizismus kann
aber nicht heißen, sich unkritisch zu Vertretern des „kritischen
Revisionismus" zu verhalten. Die Forschung weiß inzwischen
sehr viel mehr und Genaueres über das Reichskonkordat als
Lewy in den 1960er Jahren.

Der Prozeß der Modernisierung vollzieht sich als Auflösung,
Veränderung, Umbildung. Die großen christlichen Konfessionen
haben ihn seit dem letzten Drittel des 19. Jh.s als permanente
Herausforderung empfunden, die in den 1920er Jahren einen
Kulminationspunkt erreichte. Bloße Historisierungsintercsscn
verfolgt der Vf. nicht. „Was immer damals zum Thema Katholizismus
und Moderne vorgedacht wurde, ist erhellend für das
gegenwärtige Selbstverständnis der katholischen Kirche, das
nach wie vor aus einer unsicheren und unaufgelösten Verhältnisbestimmung
zur modernen Gesellschaft resultiert" (17). Der
Antagonismus zwischen Katholizismus und Moderne mag in
jenen theologischen Bereichen, die der Vf. analysiert, zutreffend
charakterisiert sein. Insgesamt jedoch ist das Verhältnis
Katholizismus-Moderne komplexer, wie zahlreiche Studien von
Historikern und Soziologen gezeigt haben. Neben dem theologischen
Antimodernismus gibt es einen funktionalen Modernis-