Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1995

Spalte:

682-684

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

Loyale Distanz?; 1 1995

Rezensent:

Kirchner, Hubert

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

6X1

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 7/8

682

Es dauerte vom Mauerbau an 8 Jahre, bis es zur endgültigen
Trennung der Ostkirchen von der EKD und zur Bildung des
-Bundes Evangelischer Kirchen in der DDR" (BEK) kam. Ein
Kapitel für sich war der Alleingang des gefügigen Thüringer
Bischofs Mitzenheim, der wohl von seinem OKR Lötz (IM
..Karl") gelenkt wurde. Die übrigen Bischöfe und Synoden
waren geteilt in eine konservativere Gruppe und eine fortschrittlichere
Gruppe („Kirche im Sozialismus"), einigten sich jedoch
am Hude auf den Kirchenbund. Außerdem gab es Kadergruppen
unter den Theologen und Pfarrern, von denen nicht wenige IM
waren. und deren kirchenpolitische Forderungen radikaler als
die der SED-Kirchenpolitik waren. Das kam zum Ausdruck in
der Auseinandersetzung zwischen den „Zehn Artikeln" der
Konterenz der evangelischen Kirchenleitungen vom 8.3.1963
und den „Sieben Sätzen" (von Hanfried Müller entworfen und
vom Weißenseer Kreis mit dem Untertitel: „Freiheit der Kirche
zum Dienen" verabschiedet). Über die „Sieben Sätze" schrieb
Karl Barth: „Der Unfug, der mit dem Namen von Bonhoeffer
getrieben wird... übersteigt nachgerade alle Grenzen" (548).
w«lf Krötke fragte 1992 danach, „wie man überhaupt auf den
Gedanken kommen konnte, der .real existierende Sozialismus'
sei ,die mündige Weif" (550).

Auf der Reise durch diese acht Jahre (1961-1969) wird an
interessanten Zwischenstationen Halt gemacht. Die SED-Politik
verhinderte, daß der westdeutsche Militärbischof Hermann
Kunst eine offizielle Einreisegenehmigung erhalten konnte,
inoffiziell waren aber alle Hintertüren offen, wenn er zu Geheimverhandlungen
mit Waren im Wert von 40.000 DM für
jeden Freigelassenen und Ende der sechziger Jahre regelmäßig
m't 110 bis 120 Millionen DM (meistens in Naturalien) als
-Partnerschaflshilfe" kam. Diese Gelder und Waren haben die
evangelische Kirche in der DDR organisatorisch als Volkskirehe
erhalten, obwohl die Mitgliederschaft, die 1960 noch etwa
90% und 1966 noch 60 % betrug, in den siebziger und achtziger
Jahren auf 22% zurückging.

Das Buch ist heiß umstritten; nicht so sehr wegen des Zitierten
und Geschriebenen, sondern wegen der fehlenden Quellen
und wegen des all zu summarisch Konkludierten. Das Buch
sagt mehr über den SED-Staat als über die inneren Vorgänge
und deren Motive in den verantwortungstragenden Kirchcnlei-
tungen. Von der Verkündigung derselben Kirchenleiter hört
nian so gut wie gar nichts, auch das Leben der Gemeinden ist
rasl völlig ausgeblendet. Das wäre nicht zu kritisieren, wenn
Mehl so viele Menschen empfindlich getroffen würden durch
Sätze wie: „Merkwürdigerweise gab man sich im Raum der
Kirche immer wieder der Illusion hin, daß sich nach bestimmten
Zugeständnissen das Verhältnis /.wischen Staat und Kirche
bessern werde, und wollte nicht wahrhaben, daß erst die Selbstaullösung
der Kirche den militant atheistischen Staat wirklich
''ulrieden gestellt hätte." Ob das nicht all/u summarisch gesagt
'St? Was wäre denn die Alternative zu dem geführten Kurs
gewesen? Hätte Gefängnis und Martyrium das Volk für die Kirche
bewahrt'' Warum ist das Volk nicht wie im Baltikum nach
dem l all der Mauer in die Kirche zurückgekehrt? Hat das überhaupt
etw as mit dem geführten Kurs der Kirchenleiter zu tun?

So stellt das Buch die Aufgabe, nicht nur neue Quellenstudien
/u treiben, sondern auch über diese und andere Fragen nachzudenken
. Unter diesen Aufgaben sei eine hervorgehoben. Um die
Quellen des SED-Staates richtig zu verstehen, muß man sich die
besondere Sprache ideologischer Doppelzüngigkeit, die man als
Verlogenheil und Verkennung der Wirklichkeit zugleich charak-
terisieren kann, deutlich machen. Die Kritik am Vf.. daß man die
Worte der staatlichen Quellen einer ideologischen Diktatur nicht
•.fundamentalistisch" als bare Münze nehmen darf, sollte sehr
ernst genommen werden. Wer wirft den ersten Stein?

Abyhoj Jorgen Glenthoj

Grünzinger, Gertraud, u. Carsten Nicolaisen [Bearb.]: Dokumente
zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches. III: 1935-
1937. Von der Errichtung des Reichsministeriums für die
kirchlichen Angelegenheiten bis zum Rücktritt des Reichs-
kirchenausschusses (Juli 1935-Februar 1937). Gütersloh:
Kaiser 1994. XXXI, 447 S. gr.8t>. Kart. DM 68.-. ISBN 3-
579-01865-5.

Der vorbildlich edierte und kommentierte Band spiegelt in 149
Dokumenten (und einem Anhang) die nationalsozialistische
Kirchenpolitik auf zentraler Ebene wider. Er setzt mit einem
Erlaß Hitlers vom 16. Juli 1935 ein, der die Errichtung eines
eigenständigen Reichskirchenministeriums vorbereitete, und
endet mit dem Erlaß Hitlers vom 15. Februar 1937. der neue
Kirchenwahlen in Aussicht stellte. Damit entschied sich Hitler
gegen den Kurs von Reichskirchenminister Kerrl, den Kirchenkonflikt
durch staatlich-administrative Maßnahmen zu bereinigen
. Die Befriedungspolitik des Reichskirchenausschusscs
blieb eine kurzfristige Episode.

Beide Erlasse sind nicht nur in chronologischer Hinsicht aufeinander
bezogen. Sie verweisen auf die zentrale Rolle Hitlers
in der Formulierung und Durchsetzung der NS-Kirchenpolitik.
Ihr lag kein festgefügter Plan zugrunde, sie lebte vielmehr von
Improvisation und taktischem Kalkül. Dennoch läßt sich bei
allen Ambivalenzen, wie in der Einleitung zurecht hervorgehoben
, eine klare Doppelstrategie erkennen: Die Verdrängung des
kirchlichen Einflusses aus der Gesellschaft sowie andererseits
der Versuch eines „friedlich-schiedlichen Arrangements" mit
den Kirchen, sofern sie sich dem NS-Staat anpaßten. Konstant
war jedoch nur die erste Zielsetzung, während die maßgeblich
von Kerrl repräsentierte Politik des Arrangements als abhängige
Variable zu begreifen ist. Sie widersprach, wie Goebbels und
Rosenberg instinktiv erkannten, dem totalitären Herrschaftsanspruch
des NS-Regimes.

Daß fast zwanzig Jahre seit dem Erscheinen des letzten Bandes
vergehen mußten, ist weder Hg. noch Bearbeitern anzulasten
. Ohne ungehinderten Zugang zu den im (ehemaligen) Zentralarchiv
der DDR in Potsdam lagernden Beständen des
Reichskirchenministeriums war eine Fortführung der Arbeiten
in der Tat nicht zu vertreten. Dennoch stellt sich die Frage, welche
Bedeutung solchen großangelegten Editionsprojekten heute
noch zukommen kann, nachdem die Geschichte des Kirchenkampfes
hinlänglich erforscht ist. Grundlegend neue Erkenntnisse
vermögen die vorliegenden Dokumente nicht zu vermitteln
, sie sind nach langer intensiver Forschung wohl auch nicht
mehr zu erwarten. Diese Feststellung schmälert in keiner Weise
die editorischen Verdienste der Bearbeiter, dennoch sollte der
Einsal/, knapper Mittel und Ressourcen für die Erforschung der
kirchlichen Zeitgeschichte neu überdacht werden.

Berlin Clemens VollnhiiK

Höllen. Martin: Loyale Distanz? Katholizismus und Kirchenpolitik
in SBZ und DDR. Ein historischer Überblick in Dokumenten
. I: 1945 bis 1955. Berlin: Selbstverlag Martin Höllen
1994. XCVIII. 427 S. gr.8<>. Kart. DM 42.-.

Aufklärung tut not! Allzu lange blieben Hintergründe im dunkeln
, und Vorgänge wurden mehr kommentiert so. wie man sie
im Blicke hatte, als dokumentiert. Der hier anzuzeigende erste
Teil eines auf drei Bände angelegten Überblickes in Dokumenten
bietet die bislang mit Abstand reichste Sammlung, gestattet
insofern die tiefsten Einblicke und ermöglicht die umfassend
sten Erkenntnisse über den Weg der römisch-katholischen Kirche
durch die Zeit der sowjetischen Besatzungszone und dann
der DDR. Daß trotzdem noch längst nicht von einer ab-