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Ausgabe:

1995

Spalte:

663-664

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Reichelt, Hansgünter

Titel/Untertitel:

Angelus interpres 1995

Rezensent:

Böcher, Otto

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663

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 7/8

664

Reichelt, Hansgünter: Angelus interpres-Texte in der Johannes
-Apokalypse. Strukturen, Aussagen und Hintergründe.
Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang
1994. VII, 246 S. 8« = Europäische Hochschulschriften. Reihe
XXIII: Theologie, 507. ISBN 3-631-47248-X.

Noch immer ist eine umfassende Monographie über die Angelo-
logie der Johannes-Apokalypse ein Desiderat der neutestamentli-
chen Forschung. Die vorliegende Untersuchung, eine theologische
Dissertation der Kirchlichen Hochschule Leipzig von 1992
(der Name des Doktorvaters wird leider nirgends genannt),
behandelt wenigstens einen Teilaspekt dieser Thematik: den
Deute- oder Dolmetscherengel (angelus interpres) in der Offenbarung
des Johannes.

Eine kurze Einleitung skizziert die Urteile der älteren Forschung
über den Angelus interpres und nennt Aufgabe und
Methode der Arbeit (4-20). Kapitel I (21-33) beleuchtet knapp
„Das angelologische Umfeld" {„mal'äk, äyyeXoc, und die Engel
in der Johannes-Apokalypse"). Das Kernstück der Arbeit ist
Kapitel II (34-136): „Angelus interpres-Texte in der Johannes-
Apokalypse". Nacheinander referiert und interpretiert der Vf. die
einschlägigen Belege der Johannes-Apokalypse (1,1; 22,6; 17.1-
18; 21.9-21; 22,1; 19,9f.; 22,8-16).

„Analoge Aussagen zu den Angelus interpres-Texten innerhalb
der Johannes Apokalypse und ihren Hintergrund" behandelt
Kapitel III (137-176). Mit Apk 1,12b-16 („Christus in der Ange-
lophanie") vergleicht der Vf. Ez l,26b-28; 8,2; Dan 7,9; 10,5f;
ApkAbr 1 l,2f.; ApkZeph II; 9,2-4 und JosAs 14,9 (Abschnitt l,
S. 137-164). „Christi Gegenwart in der Prophetie" (Apk 2f.) wird
in Abschnitt 2 dargestellt (164-167). „Menschen als Engel -
Engel als Menschen" sind das Thema von Abschnitt 3; unter diesem
Aspekt untersucht der Vf. Apk 1,20; 2,1.8.12.18; 3,1.7.14;
5,5; 7,l3f. (167-176).

Ein eigenes Kapitel ist dem altjüdischen Hintergrund von Apk
21.15-17 gewidmet („Menschenmaß als Maß eines Engels",
Kap. IV, 177-210). Als vermutlich prägende Belegstellen nennt
R. Ez 40-48; Sach 1,16; 2,1-5; äthHen 61,1-5; 70,3 und die Qum-
ran-Fragmente vom Himmlischen Jerusalem (nach Klaus Beyer,
Die aramäischen Texte vom Toten Meer..., Göttingen 1984).
„Schlußbemerkung und Ausblick" (211-213), ein Textanhang
(214-217) und ein Literaturverzeichnis (218-246) beschließen
den Band.

Gerade weil R.s Monographie, im Gegensatz zu zahlreichen
Dissertationen der Gegenwart, sich einer erfreulichen Knappheit
und Kürze befleißigt, bleiben einige Wünsche des Rez. offen. So
wird die Gesamtheit der Engelbelege und -typen in der Johannes-
Apokalypse allzu summarisch behandelt (27-33), zu pauschal ist
auch der Abschnitt über den inaräk des Alten Testaments (21-
23). Warum der Vf. den ausführlichen TRE-Artikel „Engel" (Bd.
9. I9S2) nicht benutzt hat, bleibt unerfindlich; zumindest zu seiner
alttestamentlichen Skizze hätte er auf das reiche Material bei
Horst Seebaß (a.a.O. 583-586) verweisen können. Nirgends in
R.s Buch fand ich eine Erwähnung der Tatsache, daß es nicht nur
in der Johannes-Apokalypse, sondern auch sonst im Neuen Testament
Angelus-interpres-Belege (so korrekt nach Duden statt
..Angelus interpres-Belege", R. passim) gibt z.B. Mk 16,5-7
parr.: Jo 20,121'.; apg. 1,101'.; hier hätte ein Vergleich der Gemeinsamkeiten
und Unterschiede dazu beitragen können, die Johannes
-Apokalypse aus ihrer scheinbaren Sonderexistenz innerhalb
des neutestamentlichen Kanons zu befreien.

Ansonsten jedoch handelt es sich um einen soliden und begrüßenswerten
Beitrag zur Erforschung der Johannes-Offenbarung
. Die Aussagen der Apokalypse zum Angelus interpres sind
vollständig erfaßt und methodisch korrekt exegesiert. Daß in
Apk 17 der Deuteengel den wahren Charakter der yvvi] stufenweise
enthüllt (65). ist richtig erkannt und wird durch drei Übersichten
anschaulich vorgeführt (66-68). Ähnliche Beobachtungen
macht der Vf. auch an den übrigen Belegen. Es trifft zu, daß
Engel- und Christus-Epiphanien einander formal weitgehend
entsprechen (38-41, 50, 65 u.ö.), wie auch R.s Feststellung, es
gebe in der Johannes-Offenbarung nicht „den angelus interpres
als individuelle Gestalt mit persönlichen Merkmalen" (212).
durchaus ins Schwarze trifft. Der Angelus interpres ist eben
kein „richtiger" Engel wie die dem Mythos zugehörigen sonstigen
Engel (und Dämonen) der Johannes-Offenbarung; er ist ein
Kunstprodukt theologisch-literarischer Reflexion. Deshalb fördert
auch R.s Suche nach altjüdischen Parallelen (137-157, 177-
206 u.ö.) keinen religionsgeschichtlichen Hintergrund, sondern
bestenfalls literarische Abhängigkeiten (etwa von Ez 40-48,
177-195) zutage (vgl. 212f.). Es hat den Anschein, als spreche
in den Reden des Angelus interpres der theologische Autor der
Johannes-Apokalypse unmittelbarer zu uns als im weithin traditionellen
Material ihrer Visionen und Auditionen. Der Angelus
interpres der Johannes-Offenbarung ist in besonderer Weise
Ausdruck eines „sich dem Menschen auf vielfältige Weise
offenbarenden und nahenden Gottes" (213).

Mainz Otto Böcher

Schindler, Thomas: Das Recht der Anderen. Befreiungstheologische
Lektüre des Neuen Testaments in Lateinamerika.
Münster: Aschendorff 1994. X, 301 S. gr.8° = Neutestament-
liche Abhandlungen, NF 27. Lw. DM 92,-. ISBN 3-402-
04775-6.

Das Verhältnis zwischen mitteleuropäischer Exegese und der
Bibelauslegung in der sog. Dritten Welt stellte sich lange Zeit
als ein Nicht-Verhältnis dar. Es bestand der Eindruck, von der
Dritten Welt werde kein Beitrag zur wissenschaftlichen Exegese
geleistet, umgekehrt sei kein Beitrag der europäischen Exegese
für die spezifischen Probleme der Dritten Welt zu erwarten
. Dieses Bild beginnt sich zu wandeln. Ein Indiz hierfür ist
die Habilitationsschrift von Thomas Schmeller, die 1993 von
der Katholisch-Theologischen Fakultät der Münchner Universität
angenommen wurde. Ihr Reiz besteht darin, daß sie die
Darstellung der befreiungstheologischen Lektüre des NT in Lateinamerika
mit einer programmatischen hermeneutischen These
verbindet.

Die Arbeit ist in fünf Teile gegliedert: Den I. Teil - ..Forschungsstand
und Fragestellung" - beginnt Sehmelier mit einem Überblick über Wahrnehmung
und Weitung befreiungstheologischer Bibelauslegungen durch
europäische und nordamerikanische Exegeten. Diesem werden dann herme-
neutische Positionen und Modelle aus Lateinamerika gegenübergestellt,
repräsentiert durch S. Croatto, C. Mesters, Cl. Boff, Ely B. Cesar und
E.Dussel. - Teil 2 greift in die Zeit der Kolonisierung Lateinamerikas
zurück und kontrastiert die Positionen, die Las Casas. der Anwalt der Indianer
, einerseits und Sepülveda, der Befürworter der Versklavung der Urbevölkerung
Lateinamerikas, andererseits, eingenommen haben. Dabei geht
es dem Verfasser vor allem um den Zusammenhang dieser Positionen mit
den Prinzipien der jeweiligen Bibelauslegung. - Die Teile 3 und 4 beschrei
hen und bewerten die Zugänge einmal der ..professionellen", sodann der
..populären" Befreiungstheologie zum NT. Die Untergliederung ist jeweils
identisch: Der Rahmen: Texte. Themen und Tendenzen: Ausgewählte Einzelthemen
(hier: der historische Jesus. Jesu Verkündigung des Reiches Gol
tes. die politische Relevanz Jesu: dort: Jesu Verkündigung des Reiches Gottes
, die Wunder Jesu, die Passion Jesu). Den Schluß bildet jeweils eine
Zusammenfassung und Auswertung. - Im 5.. abschließenden, Teil werden
die Ergebnisse zusammengestellt und mit einem ..Ausblick auf Mitteleuropa
" verbunden. - Das Literaturverzeichnis umfal.il ca. 5(K) Titel; ein Register
der behandelten Bibelstellen erleichtert den Zugang zur Auslegung einzelner
Perikopen.

Bei der Bewertung der befreiungstheologischen Lektüre des
NT geht Schmeller von der Annahme aus. daß es sinnvoll ist.
„gesellschaftliche Beziehungen anhand des (mit Dussel abgewandelten
) Levinasschen Modells von Totalität und Alterität zu
interpretieren" (48). Seh. deutet das Problem der Totalisierung