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Ausgabe:

1995

Spalte:

661-662

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Merklein, Helmut

Titel/Untertitel:

Die Jesusgeschichte - synoptisch gelesen 1995

Rezensent:

Rau, Eckhard

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Seite 1

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 7/8

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druck des jüdischen Krieges, der antichristlichen Stellungnahme
der Synagoge, der Hinwendung seiner Gemeinde zur Heidenmission
und zur Gemeinschaft mit den Kirchen aus den Heidenvölkern
diese Entwicklung fördern will. ... Matthäus würde
pragmatisch den Weg beschreiten, den Paulus theoretisch und
grundsätzlich eingeschlagen hatte." (217)

Man wird unumwunden zugehen müssen, daß der Vf. ein
beeindruckendes Bild der Entstehung von Bergpredigt und
Feldrede zeichnet. Der konsequente Versuch, die Entstehung
dieser zentralen Texte aus der Geschichte des Urchristentums
zu verstehen, verdient hoho Anerkennung. Trotzdem bleiben
gravierende Fragen. Ich greife zwei der m.E. wichtigsten Probleme
heraus:

L Der Vf. kritisiert mit Recht ein allzu simples Verständnis der 2-Quel-
'cn-Theorie, das alle Änderungen in der Quelle dem Endredaktor zuschreibt
In seinem Bemühen. konsequent überlicferungsgeschichtlich zu
deuten und dabei auch die unbestreitbare lit. Verwandtschaft beider Texte
Wl Blick zu behalten, gerät er aber tendenziell an das alte Branche Modell
der Geschichte des Urchristentums.

Bj isi unbestreitbar, daß die Bergpredigt Material enthält, das auf tora-
ngoristische Kreise weist, die gegen Antinomisten polemisieren. Bs ist auch
deutlich, daß die Feldrede eher in heidenchristliches Milieu weist. Das vermag
aber m.E. nicht die These zu tragen, daß die Feldrede jeweils als Reaktion
auf (polemische) Zuspitzungen in der judenchristlichen Bergpredigt
uberarbeitet worden sei (121).

2. Der Vf. unterstellt den Autoren von Bergpredigt und Feldrede ein anachronistisches
Verhältnis zur urchristlichen Tradition (vgl. 140 - ..Ehrfurcht
vor der heiligen Tradition" u.ö.). Ich glaube kaum, daß sich das durch den
Pauschalen Verweis auf Lk 1,1-4 belegen läßt. Das Unbehagen des Vf.s
"her „Schlachtefeste". die die Redaktoren der Evangelien mit ihren Quellen
veranstaltet haben sollen, ist nur zu berechtigt, darf aber m.E. nicht dazu
verleiten, in das andere Extrem zu verlallen. Außerdem besteht nun die
Gefahr, alles, was nicht auf die angenommene Überlieferungsebene paßt.
a's ehrfürchtig mitgeschleppte Tradition zu deklarieren.

Die vorliegende Untersuchung macht auf Defizite in der Syn-
optikerforschling aufmerksam und bietet den unkonventionellen
Versuch einer Lösung in einer wichtigen Teilfrage. Die Diskussion
dazu aber wird weitergehen müssen.

Rostock Klaus-M. Bull

Merklein, Helmut: Die Jesusgeschichte - synoptisch gelesen.

Stuttgart: Kath. Bibelwerk 1994. 244 S. 8» = Stuttgarter
Bibelstudien. 156. Kart. DM 49.80. ISBN 3-460-04561-2.

••Synoptisches Lesen ist reizvoll und theologisch zudem fruchtbar
" (8). Das ist die Erfahrung, die Helmut Merklein mit seinem
Buch weitergeben möchte. „Es möchte anregen, die Jesusge-
schichte synoptisch zu lesen" (X). zugleich aber auch „die Aussagen
des Textes mit Gegebenheiten der menschlichen Existenz
und mit Erfahrungen der heutigen Lebensweit vermitteln" (9).

M. gliedert den synoptischen Stoff in siebzehn große Kapitel.
Er folgt dabei dem Aufriß des Mk, dem jeweils die Parallelen
bei Mt und Lk zugeordnet werden. Ist dieses nicht möglich,
bekommen die Seitenreferenten ein eigenes Kapitel. Dabei ist
M sich natürlich bewußt, daß die Orientierung an Mk mancher
Eigenart des Mt/Lk nicht gerecht wird. Seine Aufteilung des
Stoffes aber stellt einen guten Kompromiß zwischen den vermiedenen
Möglichkeiten dar.

Die einzelnen Kapitel bieten zunächst eine geschlossene Darstellung
des Mk und lassen darauf dessen Bearbeitung durch Mt
und Lk folgen. Das redaktionsgeschichtliche Profil der Texte
s<eht deshalb im Vordergrund. Doch informiert das Buch
zugleich über ein großes Spektrum anderer Probleme der syn-
»ptisehen Überlieferung. So findet sich eine Vielzahl von Exkursen
. z.B. über die Vorgeschichte der Komposition von Mk
2,1-3.6 (lOf), über den religionsgeschichtlichen Hintergrund
der Jungfrauengeburt (460. über die Literarkritik und Traditionsgeschichte
von Mk 4.1-34 (1061) oder über das Verständnis
der primären Antithesen bei Jesus (90f). Und bei der Passionsgeschichte
wird nicht nur die Intention der Evangelisten behau
delt, sondern wir erfahren auch etwas Uber ihre historische Auswertbarkeit
(205-207), über ihre Überlieferungsgeschichte
(207-210) und über den ältesten Kreuzigungsbericht (210-213).

Dem Ziel einer Einführung entspricht es, daß die Auslegungen
zu Beginn des Buches ausführlicher sind, später dagegen
knapper werden. Schwer nachvollziehbar ist allerdings, daß den
Einzelstücken der Bergpredigt nur sechs Seiten gelten (89-95).
Vollends an seine Grenzen stößt das Buch dort, wo ganze Peri-
kopen mit nicht mehr als ein oder zwei Sätzen bedacht werden
(z.B. 189f zu Lk 19.28-21,4).

Angesichts der Ausrichtung auf die Gesamtheit der synoptischen
Überlieferung wäre es verfehlt, das Buch nach seinen
exegetischen Leitgedanken zu befragen. Solche Leitgedanken
sind am ehesten den theologischen Auslegungen zu entnehmen.

So heißt es z.B. zu Mk 1.1-8: „Umkehren kann man nur. wenn man erst
einmal abräumt, ausräumt, sich in die Wüste begibt... Christliche Gemeinschaften
und Gemeinden könnten solche Orte sein, eine Art Wüste der
Welt.... wo Menschen sich anklagen können, ohne verurteilt zu werden, um
so zum Nullpunkt zu finden, der neue Schöpfung - creatio ex nihilo - verheißt
" (I3f). Zu Mk 1.16-20 lesen wir. der Text stelle denjenigen, die „sich
hierzulande ja meistens in sehr geregelten (bürgerlichen! Strukturen" bewegen
, „die kritischen Fragen": „Wie festgelegt bist du auf deine Netze und
auf deine sozialen Beziehungen? Wie llexibel bist du. um das zu tun. was
wirklich nötig ist? Oder tust du es nur nicht, weil es unbequem ist?" (59).

Freilich scheint sich der Vf. bei seiner Applikation der Texte
auf die bürgerliche Existenz, nicht ganz wohl zu fühlen. Denn zu
Mt 10.9 lesen wir: „Die Frage, ob das Christentum von heute und
heutige Kirchen sich angesichts solcher klaren Anweisungen (sc.
zur Armut und zur Wehrlosigkeit) noch auf Jesus berufen kön
neu. sollte man nicht verdrängen" (126). Mir scheint: „Das Wagnis
theologischer Interpretation", an dem dem Vf. so viel gelegen
ist (9), bleibt in seiner Allgemeinheit problematisch uund wird
insbesondere der Radikalität vieler Texte nicht gerecht.

Das Buch bietet eine Fülle exegetischer Einsichten. Auch
wenn man von ihm keine Weiterführung der Forschung erwarten
darf, finden sich immer wieder auch höchst eigenwillige Thesen.
So heißt es z.B.. der Täufer habe bei der „würdigen Frucht der
Umkehr" (Mt 3.8) wohl an „nichts anderes als die Taufe, die er
anbietet", gedacht (22). Das dürfte angesichts der geprägten
Metaphorik von „Frucht" kaum verifizierbar sein. Noch stärkere
Bedenken sind gegen die bereits an anderem Orte vertretene These
geltend zu machen, in Mk 16,1-8 sei „ursprünglich nur von
einem Besuch am Grabe (nicht von einem Hineingehen in das
Grab) die Rede" gewesen, „der mit der Grablegung Jesu eine
zusammenhängend einheitliche Geschichte bildete", bestehend
aus I6.2a.4a.8a-b (221). Auch wenn es einschränkend heißt, die
Rekonstruktion sei hypothetisch und halte nicht „den Wortlaut,
sondern bestenfalls das narrative Programm der Geschichte" fest
(222). dürfte hier der Wunsch nach einer wunderlosen Ostergeschichte
der Literarkritik die Feder geführt haben.

Das eigentliche Problem des Buches liegt darin, daß der Vf.
offen läßt, an wen es sich richtet. An Theologiestudierende? An
gebildete Laien? Eine Einführung bedarf einer didaktischen
Reflexion, die auswählt und Akzente setzt. Beides fehlt. Und
die Vielfalt der Aspekte, die praktisch die gesamte Synoptikerexegese
berühren, dürfte jeden überfordern, der eine Einführung
sucht. Verwirrend ist insbesondere der dauernde Wechsel
von Mk zu Mt und Lk und von dort wieder zu Mk. vor allem
dann, wenn man das Buch im Zusammenhang liest. Hilfreich
dagegen kann es sein, wenn man sich auf die Lektüre einzelner
Kapitel beschränkt. Auch wer eine eiste Orientierung über
einen einzelnen Text oder ein bestimmtes Problem sucht, wird
bei M. auf seine Kosten kommen.

Norderstedt Eckhard Rau