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Ausgabe:

1995

Spalte:

659-661

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Krämer, Michael

Titel/Untertitel:

Die Überlieferungsgeschichte der Bergpredigt 1995

Rezensent:

Bull, Klaus-Michael

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Theologische Literaturzeitu ig 120. Jahrgang 1995 Nr. 7/8

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gischen Karriere des Jesus von Nazareth" rundet diesen Teil ab,
indem er eine Brücke vom Osterglauben zu den Anfängen der
Christologie schlägt. Betont wird hier einerseits die Unvermeidbarkeit
des Übergangs von einer eher funktionalen zu einer
ontologischen Christologie, und damit einer Divinisierung Jesu,
im Prozeß der Rezeption des Jesusglaubens im hellenistischchristlichen
Traditionsbereich; andererseits aber wird die kritische
Frage gestellt, ob es „angesichts des neuzeitlichen Abschieds
von der Metaphysik überhaupt noch sinnvoll bzw. verantwortbar
" sei, „an dieser auch für uns der Vergangenheit
angehörendenden hellenistischen Rezeptionsgeschichte Jesu ...
festzuhalten" (258). Kritisch wird ferner angemerkt, daß eben
diese Rezeptionsgeschichte, indem sie den Akzent auf die Verbindung
des je Einzelnen mit dem pneumatischen Leben des
vergotteten Jesus legte, zum „Verlust der politischen Implikationen
der Basileia-Botschaft Jesu und ihres gesellschaftskritischen
Potentials" geführt habe (272).

In Teil III („Von Jesus zur Kirche") verstärken sich die kritischen
Töne. Gegenüber einer triumphalistischen Ekklesiologic.
die die Kirche mit ihren Ordnungen und ihrer Struktur in ungebrochener
Kontinuität zur Basileia-Botschaft Jesu sehen möchte
, wird die Vorläufigkeit der Kirche betont: Sie steht „unter der
sie immer neu provozierenden Frage, wie sie die Kontinuität zu
jenem Ursprungsimpuls bei Jesus von Nazareth, dem sie ihre
Existenz, verdankt, bewahren kann" (274). In der Studie „Prie-
stertum und Amt im Neuen Testament" (erstveröffentlicht in: P.
Hoffmann, Hrsg., Priesterkirche, Düsseldorf 1987) wird die
Entwicklung von Ordnung und Ämtern im Urchristentum als
frühe Gefährdung dieser Kontinuität beschrieben. Paulus und -
ihm folgend - Matthäus haben zwar das Konzept einer bruderschaftlichen
Gemeinde entwickelt, das sich einem legitimen
Verständnis von Sendung und Botschaft Jesu verdankt, aber
dieses konnte aufgrund gegebener äußerer Bedingungen zurückgedrängt
werden durch die autoritär-hierarchischen Gemeindemodelle
der Pastoralbriefe, des I. Clemensbriefs und der
Ignatianen. Bei aller Schärfe der Beobachtung kommt es hier
m.E. gelegentlich zu plakativen Überzeichnungen. Sehr viel
differenzierter ist der Aufsatz „Der Petrus-Primat im Matthäusevangelium
" (aus FS. R. Schnackenburg 1974). der eine glänzende
Analyse von Mt 16,17-19 bietet und zur Standardliteratur
zu dieser umstrittenen Stelle gerechnet werden darf. Den Beschluß
bildet ein Vortrag aus dem Jahr 1990: „Christliche
Gemeinde zwischen messianischer Utopie und Realität". Hoffmann
erteilt in ihm dem Verständnis der Kirche als „Kontrastgesellschaft
" (G. Lohfink) eine Absage, weil es die Vorstellung
impliziere, „als handle es sich bei der Kirche um eine eigenständige
, von der übrigen Gesellschaft unterschiedenen Größe mit
einem eigenen Sozialsystem. Die Idee der civitas dei im Gegensatz
zur civitas diaboli der Welt steht hier Pate." (362) Die Kirche
kann aber nicht vergessen, daß sie selbst auch „Welt" ist:
sie kann nicht aus Zeit und Geschichte ausscheren, „sich eine
eigene Gemeindewelt einrichten" (ebd.). Vielmehr muß sie sich
als offene Größe in der Gesellschaft verstehen, die sich solidarisch
weiß mit allen Menschen und sich dabei von Jesus als dem
„Anstifter unseres Glaubens" inspirieren läßt (364).

Erlangen Jürgen Roloff

Krämer, Michael: Die Überlieferungsgeschichte der Bergpredigt
. Eine synoptische Studie zu Mt 4,23-7,29 und Lk 6,17-
49. 3., erw. Aufl. Egelsbach-Frankfurt-Washington: Hänsel-
Ho-henhausen 1994. XXXIV, 270 S. 8« = Deutsche Hoch-
schulschriften, 433. Kart. DM 58,-. ISBN 3-89349-433-2.

M. Krämer, emeritierter Professor für ntl. Exegese an der Philosophisch
-Theologischen Hochschule der Salesianer Don Bos-

cos in Benediktbeuren, legt mit der zu besprechenden Ar-beit
eine Untersuchung vor, die die Entstehungsgeschichte von
Bergpredigt und Feldrede konsequent überlieferungsgeschichtlich
zu erhellen sucht. Die Spannungen innerhalb beider Textkomplexe
und die Parallelen und Unterschiede zwischen beiden
werden als Ergebnis eines Prozesses verstanden, in dessen Verlauf
beide im Zuge der Emanzipation des Urchristentums vom
Judentum und der sich anschließenden innerchristlichen Kontroverse
um das gesetzesfreie Evangelium und die Heidenmission
mehrfach überarbeitet worden sind. Dabei lehnt der Vf. die
2-Quellen-Theorie als Erklärungsmodell für die Entstehung von
Bergpredigt und Feldrede dezidiert ab.

Den Kristallisationskern beider Textkomplexe sieht der Vf.
im Widerstandsverbot und dem Gebot der Feindesliebe, die
ursprünglich in der Form Mt 5,39- 41.44; Lk 6,28; Mt 5,45 vorgelegen
hätten. Diese Worte seien „radikale Weisungen" Jesu
„an die Jünger, um der Versuchung, sich von der Aufstandspsychose
mitreißen zu lassen, wirksam zu widerstehen" (24). Diese
Weisung sei dann, bedingt durch die schnell wachsende Zahl
der Gläubigen (Apg 2,41; 4,4), zu einer „Hausregel" ausgebaut
worden (Mt 5.39-42; Lk 6,31.27: Mt 5,45-48), die vor allem
den brüderlichen Umgang in der Gemeinde regeln sollte.

Danach spaltet sich die Überlieferungsgeschichtc des Textes
in 2 Stränge auf. Im judenchristlichen Ambiente entsteht eine
„Jesus-Tora der größeren Gerechtigkeit" (Mt 5,20-2la.22a.
27L31-42; Lk 6,31; Mt 5,43; Lk 6,27; Mt 5,45-48). „Dem
Schöpfer dieser Jesus-Tora ging es darum, seinen Judenchristen
im Prozeß der Klärung ihrer Identität und der Absetzung vom
ungläubigen Judentum eine Orientierungshilfe zu bieten..."'.(5 I)

Als Reaktion entsteht in heidenchristliehem Kontext ein
„Lehrgedicht" (Lk 6,27.29; Mt 5,42; Lk 6,31-36), das vor allem
der verstärkten „seelsorgerlichen Paränese" (55) dienen sollte.
Zugleich wehrt sich der Vf. dieses „Lehrgedichts" aber auch
gegen die Entwicklung auf judenchristlicher Seite, die ihm
durch die Aufnahme weiterer Forderungen Jesu und den Vergleich
mit der Mose-Tora den Rang des Liebesgebotes zu
schmälern schien. (56)

Nachdem in weiteren Überlieferungsschritten die paräneti-
schen Rahmen (Mt 5,3-12; 7,24-27 bzw. Lk 6,20-26.47-49) und
die Passagen Mt 6,1-18 (vielleicht ohne Vaterunser) und Lk
6,37f eingefügt worden sind, gerät die Überlieferungsgeschichte
beider Textkomplexe endgültig in den Strudel der Auseinandersetzung
zwischen Juden- und Heidenchristen um die Heilsbedeutung
der Tora.

Das heidenchristliche „Gesetz. Christi" wird um Lk 6,39-46
erweitert, um so „... das in den paulinischen Gemeinden als
alleiniges Gesetz Christi anerkannte Liebesgebot Lk 6,27-38
nicht nur positiv vorzulegen, sondern zugleich auch als die
alleinige authentische .Lehre Jesu' gegen die torarigoristischen
Forderungen zu verteidigen." (118) Auf der anderen Seite wird
die „Jesus-Tora der größeren Gerechtigkeit" torarigoristisch
reinterpretiert und polemisch gegen das gesetzesfreie Evangelium
und die Heidenmission abgesichert (Mt 5,17-19 - „eine
Antinomistenkeule" (139); 6,19-21; 6,22f (Licht als Gcsct/cs
kenntnis; Finsternis als sündhafter Ungehorsam gegenüber dem
Gesetz - die alte Klammer zu 5,17-19); 7,6 (Polemik gegen die
Heidenmission); 7,13f. 15-23 (ohne V.20). Spätestens auf dieser
Stufe der Überlieferungsgeschichte der Bergpredigt sei die goldene
Regel aus ihrem ursprünglichen Kontext (nach Mt 5,42)
gestrichen worden, da sie „das Hauptargument der Gegenpartei
" (215) war.

Lukas hat die Feldrede ohne größere red. Eingriffe in sein
Evangelium integriert. Allerdings ist in diesem neuen Kontext
die Polemik nun ganz allgemein gegen jede Irrlehre gerichtet,
da die alte Kontroverse nicht mehr aktuell ist. Matthäus hingegen
überarbeitet die rigoristisch verschärfte Jesus-Tora noch
einmal. Er erweist sich dabei als ein Mann, „der unter dem Ein-