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Ausgabe:

1995

Spalte:

644-645

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Ruppert, Lothar

Titel/Untertitel:

Studien zur Literaturgeschichte des Alten Testaments 1995

Rezensent:

Seebass, Horst

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 7/8

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Zählungsraum". „Handlungsträger", „Ereignisfolge", „Zeitstruktur
" und „thematische Geschichte") folgendermaßen dar
(vgl. die Graphik auf S. 92): Auf die Exposition des Problems
von Verweigerung und Gehorsam des Propheten Jona in 1,1-3
folgen drei „Erzählteile" (1,4-16: Verweigerung Jonas. Bekehrung
der Seeleute - 3,1-10: Gehorsam Jonas, Umkehr Ninives -
4,5-11: Reflexion und Lösung des Konflikts von Verweigerung
und Gehorsam), die durch zwei „Gebetsteile" (2.1-1 1: Dank -
4,1-4 Klage) miteinander verbunden sind.

In detaillierten Analysen der Erzählteile (Kap. 4) und der
Gebetsteile (Kap. 5) fragt Lux dann insbesondere nach der
pragmatischen Dimension des Textes: Was wollte der Autor im
Verlauf des von ihm produzierten Textes bei seinen Lesern bewirken
? Aus den hier gewonnenen Beobachtungen entwickelt
Lux abschließend eine historische Hypothese über „das Jonabuch
als kommunikatives Handlungsspiel" (Kap. 6).

Die „Problemkonstellation" des Buches ergibt sich danach aus der Verknüpfung
von drei Problemkreisen: ..Das ist einmal die f rage nach der
Funktion und den Grenzen der Gerichtsprophetie im nachexilischen Israel,
zum anderen die nach dem Verhältnis IHWHs, des Gottes Krads, zu den
Völkern, und schließlich die nach der Punktion der Schöpfungstheologie"
(198). Der Erzähler hat. ..den unübersehbaren Versuch unternommen, den
/wischen .Gerichtstheologie' und .Gnadentheologie' berstehenden Konflikt
schöpl'ungstheologisch zu bewältigen. JHWH nimmt sehr wohl die Bosheit
der Völker wahr. Aber er kennt auch Wege und Möglichkeiten, diese zu Uberwinden
, sei es nun durch Bekehrung oder Umkehr. Seine Gnade für Ninive
ist keine grundlose und keine willkürliche Gnade. Sie bleibt an die Umkehr
der Stadt gebunden. Aber er will auch diese Gnade für Ninive. das Leben,
weil er der Schöpfer ist. und ihm als Schöpfer und Erhalter an seinen Geschöpfen
liegt(2()4).

Damit vertritt der Erzähler das Konzept einer „universalen Theokratie"
(205). Da er zugleich „ein ausgesprochenes Interesse an kultischen Vollzügen
" zeigt (206), läßt sich erwägen, |o|b man ihn in der höheren Jerusalemer
Priesterschaft suchen sollte, in der die partikularistisch-separatistische
Linie Esras und Nehemias keineswegs durchweg Gefolgschaft fand" (208).
Als intendierte Leser sind „prophetische Gruppen und ihre Sympathisanten"
(209) zu vermuten, die sich „in der spätpersischen Zeit" mit einem „inner-
prophetische|n| Konflikt zwischen einer univcrsallen Umkehr- und Gna
dentheologie einerseits und den Hoffnungen einer aktuellen Eschalologie
andererseits" konfrontiert sahen (211). Ihnen gegenüber verfolgte der Autor
das Anliegen, „diejenigen prophetischen Kreise, die in der Gefahr standen,
von der universalen Umkehr- und Gnadentheologie abzurücken und sich
den radikaleren, partikularistisch geprägten Gruppen an/uschließen, für
sich und seine liberalere Position zu gewinnen" (ebd.). Sein Verfahren läßt
sich charakterisieren als „narrative Theologie". Dabei geht es ihm freilich
nicht (im Sinne „erzählter Dogmatik") um ..theoretische Positionen des
Glaubens", sondern um den Eingriff in aktuelle „Auseinandersetzungen um
die spätnachexilische Prophetie", die in eine „tiefe Krise" geraten war
(212).

Das Jonabuch stellt sich bei genauerem Zusehen als ein
sprachlich (Ausdrucksebene) und narrativ (Inhaltsebene) hochkomplexer
Text dar. Lux versucht, diese Komplexität des Textes
aus der Komplexität seiner Entstehungssituation zu erklären.
So kann er das Jonabuch als ursprüngliche literarische Einheit
betrachten und „der dünnen Luft literarkritischer Hypothesen"
(40f) entgehen. Ob Lux' Interpretation wirklich alle Auffälligkeiten
des Textes befriedigend erklären kann, wäre allerdings
im einzelnen zu diskutieren.

So kann man beispielsweise durchaus fragen, ob sich in der „Nachholung
" in 1,10b wirklich nur die ..Ökonomie des Erzählers" zeigt (112), der
sich „langweilige Wiederholungen " „erspart" (113): Hätte der Erzähler in
V.9 von einer entsprechenden Antwort Jonas berichtet, hätte er sich die
umständliche Nachholung in V I Ob „ersparen" können - was sicher nicht
weniger „ökonomisch" gewesen wäre. Phänomene wie etwa der Rückgriff
der Pro-Form „sie" (3. Pers. sg. m.) in V7 über V.5b-6 hinweg auf V.5a
(„die Seeleute") werden überhaupt nicht registriert und diskutiert (vgl. 106).

In Anbetracht der materiellen Bedingungen antiker Litera-
tur(re)produktion stellt die Annahme der literarischen Einheitlichkeit
einer atl. Schrift grundsätzlich ebenso eine literarkriti-
sche Hypothese dar wie die ihres literarischen Wachstums. Und
der in diachronen Rekonstruktionsversuchen liegenden „Gefahr
, daß das Funktionieren eines Textes in seiner Ganzheit
... gar nicht mehr in Blick kommt, weil er von Anfang an in

hypothetische Teiltexte aufgelöst wird"(4l), versuchen redaktionsgeschichtliche
Erklärungsmodelle dadurch zu begegnen,
daß sie auf jeder hypothetisch rekonstruierten Wachstumsstufe
eines Textes (also auch für die vorliegende Fassung!) nach der
Funktion dieses Textes „in seiner Ganzheit" fragen. Das sollte
bei aller berechtigter Kritik an der Hypothesenfreudigkeil dia-
chroner Erklärungsmodelle nicht übersehen werden - zumal
wenn man die Absicht verfolgt, „die falschen Gräben /wischen
einer diachronen... und einer synchronen.„Exegese zuzuschütten
" (6).

Durchaus hypothetisch ist auch Lux' Annahme, daß wir im Jonabuch
„einen klar begrenzten Text, eine selbständige Er/anhing vorliegen haben"
(4L vgl. 13), die erst sekundär (aber unverändert!) in ihren jetzigen liierarischen
Kontext eingestellt wurde. Angesichts der „Fülle von Bezügen" (13)
des Jonabuches zu seinem literarischen Kontext im Zwölfprophetenbuch
wäre auch diese literaturgeschichtliche Hypothese in Auseinandersetzung
mit neueren Einheit«- oder Redaktionsmodellen zum Zwölfprophetenbuch
einer kritischen Prüfung zu unterziehen.

Im Blick auf 2Kön 14.25 und die allem Anschein nach „historisch-chronologisch
" gedachte Abfolge der „Kleinen Propheten" wäre schließlich
auch die Annahme, daß im Jonabuch „aktuelle" gegenüber „historischen"
Frzühlinteressen überwiegen (vgl. S. 33f in Auseinandersetzung mit H.
Gese). noch einmal zu Uberdenken. Tob. 14 zeigt ja, wie man das Jonabuch
im Kontext des Zwölfprophetenbuchs sowohl „historisch" als auch ..aktuell
" lesen konnte: „Historisch" hat sich Jonas Ankündigung des Untergangs
Ninives erfüllt (Tob 14.4.8; vgl. Nahum mit Rückbezug auf Jon 4.2 in Nah
1.2t); „aktuell" begründet es gleichwohl die Erwartung einer „Umkehr" der
Völker (Tob I4,6f; vgl. Zeph 3.9f; Mal 1,11). In Anbetracht dieser Rezeption
des Jonabuchs in Tob 14 ließe sich fragen, ob diese „doppelte Optik"
nicht schon bei der Produktion des Textes eine Rolle gespielt haben könnte.
Dann könnte das Jonabuch vielleicht auch als Dokument eines innerprophetischen
Prozesses der Reflexion und Neuinterpretation von Traditionsvorgaben
(Fremdvölkerorakel) im Lichte völkerfreundlicherer Konzepte der Perserzeit
(vgl. 206) verstanden werden.

Mit diesen Anmerkungen soll aber der Wert der vorliegenden
Studie als Ausgangspunkt für die weitere literaturwissenschaftliche
und historische Erforschung des Jonabuchs keineswegs
geschmälert werden.

Zürich Thomas Krüger

Huppert, Lothar: Studien zur Literaturgeschichte des Alten
Testaments. Stuttgart: Kath. Bibelwerk 1994. 312 S. 8« =
Stuttgarter Biblische Aufsat/bände, 18. Kart. DM 79,-. ISBN
3-460-06181-2.

in diesem Band sind 16 Aufsätze des Autors gesammelt. Bis auf
den letzten (Die historisch-kritische Methode im deutschen
Sprachraum: Vorgeschichte, gegenwärtige Tendenzen, Aufbrüche
) waren sie alle publiziert. Der letzte Beitrag scheint nach
dem Vorwort des Autors besonders durch Bedenken veranlaßt,
die Kardinal Ratzinger im Kreise der kath. Alttestamentler 1989
geäußert hat. Im Gegenzug verweist R. auf den theologischen
Gewinn, den die historisch-kritische Methode spätestens nach
dem Ende des 2. Weltkrieges hat erzielen können.

Zu diesem Gewinn gehören gewiß alle Beiträge dieses Bandes
. Sie zeigen die nachhaltige Bemühung R.s von seinen verdienstlichen
literarkritischen Anfängen bis zur Gegenwart, zu
der R. bemerkt, daß sich Lernfähigkeit in ihr erweise.

Im einzelnen findet man folgende Beiträge: Der Jahwist - Künder der
Heilsgeschichte (1967); Der Elohist - Sprecher für Gottes Volk (1967); Die
Sündenfallerzählung (Gn 3) in vorjahwistischer Tradition und Interpretation
(1971); „Urgeschichte" oder Urgeschehen ? Zur Interpretation von Gen III
(1979): Die Aporie der gegenwärtigen Pentateuchdiskussion und die Josefs-
erzählung der Genesis (19X5); Die Ruhe Gottes im priesterschriftlichen
Schöpfungsbericht und die „zufriedene Ruhe" des Plah im Denkmal mem-
phitischer Theologie. Zu Leistung und Grenze des religionsgeschichtlichen
Vergleichs (1983): „Machen wir uns einen Namen..." (Gen 11,4). Zur
Anthropologie der vorpriesterlichen Urgeschichte (1989); Zur Offenbarung
des Gottes des Vaters (Gen 46.1-5). Traditions- und redaktionsgcsehichtli-
che Überlegungen (19X9): Beobachtungen zur l.iterar- und Kompositums-