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Ausgabe:

1995

Spalte:

561-562

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Bieler, Andrea

Titel/Untertitel:

Konstruktionen des Weiblichen 1995

Rezensent:

Wagner-Rau, Ulrike

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561

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 6

562

Systematische
Theologie: Allgemeines

Bieler. Andrea: Konstruktionen des Weiblichen. Die Theologin
Anna Paulsen im Spannungsfeld bürgerlicher Frauenbewegungen
der Weimarer Republik und nationalsozialistischer
Weiblichkeitsmythen. Gütersloh: Kaiser/Gütersloher
Verlagshaus 1994. 320 S. gr.8». Kart. DM 68.-. ISBN 3-579-
(K) 139-6.

In ihrem Buch begibt sich A. Bieler auf die Spuren der
„Großmütter in der Theologie und ihrer Auseinandersetzung mit
den Themen der Weiblichkeit"" (17). Nicht nur um Anna Paulsen
geht es ihr,sondern darum, wie die Konstruktion der Geschlechts-
identität auf theologische Denkformen und soziales Handeln von
Frauen Einfluß gewinnt. Schwerpunkt ihres Interesses ist dabei
die nationalsozialistische Frauengeschichte. Leben und theologisches
Denken Anna Paulsens geben den Brennpunkt der „partikularen
historischen Perspektive" (34) ab. die B. programmatisch
einführt im Dienste der „Erinnerungssolidarität" (35) mit den unsichtbar
gemachten Frauen, die beiträgt zur Befreiung von Frauen
heute. Ebenso aber ist der Blick auf die Geschichte einer einzelnen
Frau programmatisch insofern, als mit ihr der Unterschie-
denheit der Frauengeschichten Rechnung getragen wird, die Bieler
hervorhebt gegen die Versuchung, eindeutig zu benennen,
was Weiblichkeit sei. Vielmehr will sie „die Momente des Nicht-
Identischen in der Selbstinterpretation und dem widerständigen
Handeln von Frauen"' (295) w ahrnehmen.

Entsprechend lauft das einleitende Kapitel, in dem die Vfn.
u.a. die „Diskurse über Weiblichkeit und Geschlechterdifferenz"
diskutiert, darauf zu. „die Gefahr des Essentialismus zu bannen"
(30) und unter ökonomischer, sozialer und historischer Perspektive
die Weiblichkeitskonstruktionen zu analysieren, um damit
die Möglichkeit der Vervielfältigung von Geschlechtsidentitäten
zu eröffnen. Das freilich heißt nicht, daß auf die Analyse der
Asymmetrie der Geschlechterdifferenz verzichtet wird.

Bei aller Sympathie für diese Position stellt sich mir die Frage
, ob es nicht besser gewesen wäre, sich hier auf Darstellung
und Begründung des eigenen Ansatzes zu beschränken, anstatt
eine Vielzahl von Argumentationen aus der komplexen Debatte
um die Geschlechterdifferenz knapp und darin zuweilen fragwürdig
vorzustellen.

Methodisch stützt sich Bieler auf sozialwissenschaftliche Ka-
tegorien (Frigga Hang. Karin Hausen. Gudrun-Axeli Knapp),
anhand derer sie Anna Paulsens Weg zwischen strukturellen
Vorgaben und ihrer jeweiligen Eigenaktivität nachzeichnet und
darin ebenso Anpassung wie Ausbruchsversuchen auf die Spur
kommt. Kriterien der Analyse sind dabei I. die Funktion des
sozialen Platzanweisers, den die jeweilige Weiblichkeitskon-
struktion erfüllt, und die daraus entstehenden Identitätszwänge
für Frauen. 2. die Stereotypisierung des Weiblichen und die
damit einhergehende Entwirklichung von Frauenleben und 3. die
Selbstlindung durch Unterwerfung, durch die sich Frauen die
Stereotypien zu eigen machen.

Im ersten Hauptteil stellt Bieler die Weiblichkeitskonstruktionen
in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus
dar. Hier findet sich vor. was Anna Paulsen aufnimmt bzw. überschreitet
. Für die Weimarer Zeit beschränkt sich Bieler auf die
Positionen der bürgerlichen Frauenbewegung in ihren verschiedenen
Flügeln. Breiter - und auch weniger bekannt - wird dann
die Darstellung aus der Zeit des Nationalsozialismus: Neben die
Weiblichkeitskonstruktionen der nationalsozialistischen Frauen
in ihren verschiedenen Positionen treten Darstellungen der nationalsozialistischen
Männerpositionen sowie Streiflichter auf
die Frauenpolitik der Zeit.

In diesen Rahmen wird dann im zweiten Teil des Buches die
Gestalt und das Denken Anna Paulsens eingezeichnet.

Auf „biographische Fragmente", in denen auch eine breitere
Würdigung des Burckhardthauses, der Wirkungsstätte Paulsens
, ihren Platz findet, folgt die Darstellung der theologischen
Grundlagen ihrer Weiblichkeitskonstruktionen in Hermeneutik
und Anthropologie. Sie werden konkretisiert in drei großen
Kapiteln über Ehe und Ehelosigkeit (183ff), Beruf und Berufung
der Frau (211 ff) und den beruflichen Sonderfall des Amtes
und Auftrages der Theologin (253ff), der für Anna Paulsen qua
eigener Existenz besonders wichtig war. Am Schluß jedes
Kapilels steht die Aufarbeitung ihrer Weiblichkeitskonstruktion
mittels der genannten sozialwissenschaftlichen Kriterien.

In diesem Vorgehen wird Anna Paulsen primär sichtbar in
ihrer Fortsetzung der Positionen des konservativen Flügels der
bürgerlichen Frauenbewegung. Sie nahm die These von der Polarität
der Geschlechter auf und legte damit die Frauen in ihrer
sozialen Existenz auf (leibliche und geistliche) Mutterschaft
fest. Darin wußte sie sich auch lange einig mit der nationalsozialistischen
Politik. Widersprechen tat sie allerdings dort, wo
Frauen auf ihre biologische Konstitution reduziert wurden.
Denn die Würde der Person lag für sie, in Aufnahme Kierkegaards
, für Frauen wie Männer darin, von Gott in ihrer von
Schuld bestimmten Existenz beim Namen gerufen zu sein. Im
Glauben sprach Paulsen den Frauen also Autonomie zu, in der
Logik der Zwei-Reiche-Lehre aber liegt es, so Bieler (163), daß
sie in der sozialen Wirklichkeit die Frauen zugleich in Unterordnung
zu den Männern sehen konnte. Das gilt auch dort, wo
Paulsen durch ihre Existenz als alleinstehende, berufstätige
I ran selbst betroffen war. Immer wieder stößt Bieler darauf -
last mit Erstaunen - , wie Paulsen in der Stereotypisierung ihrer
Weiblichkeitskonstruktion die eigene Lebenssituation unberücksichtigt
ließ, so z.B. in ihrem Nachdenken über die alleinstehende
Frau, deren Leben sie sieh nur in sexueller Askese und
im Gegenüber zur Ehefrau vorstellen konnte (211).

Trotz der Fülle des Materials, das einen lesenswerten Einblick
in das Denken Anna Paulsens bietet, bleibt ihre Person
und auch die Verknüpfung mit dem Zeitgeschehen merkwürdig
blaß. Die Ausblendung der biographischen Zusammenhänge,
die B. bei Paulsen beklagt, wiederholt sich in gewisser Weise in
dem Buch selber. Gut dreißig Seiten umfassen die „biographischen
Fragmente", auf die im Fortgang des Buches nur
spärlich Bezug genommen wird. Wenig erfahren wir z.B. über
Prägungen durch die theologischen Lehrer, denen sie in ihrem
Studium begegnete, und über persönliche Beziehungen und
Kontakte, die Anna Paulsen in Theorie und Praxis bestimmt
haben mögen. Einmal kommt eine Schülerin Paulsens zu Wort
(1410 und gibt einen lebendigen Eindruck von der Frau Anna
Paulsen. Sonst begegnet sie uns fast ausschließlich in ihren
Schriften, deren Entstehungshintergrund im Dunkel bleibt.

So ist der Eindruck nach der Lektüre zwiespältig: Der
Ansatz, die Geschichte der einzelnen Frau auf ihre Weiblichkeitskonstruktion
hin zu befragen, darin Frauengeschichte auch
auf heutige Fragen hin aufzuarbeiten, erscheint mir fruchtbar
und - wie B. es selbst in den Blick nimmt - fortsetzenswert. Die
Durchführung des Projektes läßt teils Wünsche offen vor allem
insofern, als die begrenzte Aufarbeitung der historischen Quellen
die Erinnerung an die theologische Großmutter Anna Paulsen
nicht wirklich lebendig werden läßt.

Norderstedt Ulrike Wagner-Raii

Hieber. Astrid, u. Ingrid Lukatis: Zwischen Engagement und
Enttäuschung: Frauenerfahrungen in der Kirche. Hannover:
Lutherisches Verlagshaus 1994. 303 S. 8°. Kart. DM 24.80.
ISBN 3-7859-0678-1.