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Ausgabe:

1995

Spalte:

559-560

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schulte, Andrea

Titel/Untertitel:

Religiöse Rede als Sprachhandlung 1995

Rezensent:

Müller, Wolfgang Erich

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559

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 6

560

Wissen ist, wo es um dieses Leben kreist und aus dem Leben
heraus denkt. Mit dieser Zerstörung der Universität und dem
daraus folgenden Verlust echten Lebenswissens versinkt unsere
moderne Gesellschaft, vom Leben und Lebenswissen getrennt,
in die Lebensverneinung, in die Barbarei.

Wieweit man solche Gedanken als den stichhaltigen Grund
unserer Kulturkrise wird anerkennen können, hängt daran, wieweil
man dem vitalistischen Ansatz des Buches wird folgen
können. Kann die letzte Subjektivität, die nach dem Buche
selbst noch vor aller intentionalen Analyse steht, wirklich als
Leben gedeutet werden, also mit einem Gattungsbegriff, der
doch zumindest als Begriff einer intentionalen Reflexion entstammt
- und von einem Leben vor jedem Begriff „Leben" zu
sprechen, ist ein Widerspruch in sich? Wie kann man überhaupt
in einem Buch, das doch notwendig mit objektivierenden
Begriffen spricht, von etwas sprechen, das sich wesensmäßig
gegen alle objektivierenden Begriffe sperrt? Läßt sich Leben
wirklich steigern, wenn Leben doch schon immer alles in allem
ist, gar absolut ist - ein Absolutes läßt sich doch nicht mehr
steigern? So wird der, der den vitalistischen Ansatz des Buches
nicht teilt, eine Reihe Einwendungen haben.

Dennoch gibt das Buch Grund zu denken. Schon das, was es
über das Fernsehen oder die Zerstörung der Universität sagt,
wird nicht leichterhand vom Tisch zu wischen sein. Was die
subjektive Lebendigkeit des Wissens anbelangt, haben schon
Fichte und Hegel auf sie gedrungen und sich jeder bloßen Objektivierung
des Wissens widersetzt, freilich von der Idee her
und nicht rein vitalistisch argumentierend. Vor allem aber ist
die Wiederentdeckung der Subjektivität gegenüber der völligen
Objektivierungstendenzen mancher analytischen Philosophie
bedenkenswert. Ist die Verwissenschaftlichung unserer Lebenswelt
und damit der Verlust an Sinnlichkeit durch abstrakte
Begriffe kein ernstzunehmendes Phänomen? Hier hat das Buch
/.weifellos auch für den Nichtvitalisten seine Verdienste.

Eine recht umfangreiche „Einführung in die Henrysche Kulturanalyse
" (9-75) ist von den Übersetzern vorangestellt worden
, um denen, die nicht in der gegenwärtigen französischen
Philosophie bewandert sind, den Einstieg zu erleichtern.

Marburg Günther Keil

Schulte, Andrea: Religiöse Rede als Sprachhandlung. Eine
Untersuchung zur performativen Funktion der christlichen
Glaubens- und Verkündigungssprache. Frankfurt/M.-Bern-
New York-Paris-Wien: Lang 1992. 178 S. 8« = Europäische
Hochschulschriften. Reihe XXIII: Theologie, 464. ISBN 3-
631-44404-4.

Die Bemühungen der analytischen Philosophie um die religiöse
Sprache sind in der deutschen evangelischen Theologie, im
Unterschied zur angelsächsischen oder skandinavischen, nur
vereinzelt rezipiert. Dieser Hintergrund erhellt die Bedeutung
der hier vorzustellenden Bochumer Dissertation bei Gottfried
Hornig.

Wenn Sprache das Medium ist, „durch das sich menschliche
Wirklichkeit konstituieren kann" (13). wie kann religiöse Sprache
dann über das menschliche Gottesverhältnis, dessen Wahrheitsanspruch
und Wirklichkeit Aufschluß geben? Um diese
Frage zu beantworten, bezieht sich die Vfn. nicht auf die
Sprachphilosophie des Logischen Atomismus, wie er z.B. von
B. Russell vertreten wird, noch auf die des Logischen Empirismus
eines R. Carnap oder M. Schlick, denn beide Theorien
sprechen der Theologie eine Berechtigung ihrer Aussagen ab.
Dies ist in der sog. Ordinary Language School anders, die in J.
L. Austin ihren konsequentesten Vertreter hat. Ausgangspunkt
ist hier die Alltags- oder Umgangssprache, an der auch religiöse

Sprache partizipiert. Maßgeblich für die Bestimmung der
Sprachhandlung ist für die Vfn. Austins 1962 posthum erschienene
Schrift How to do Things with Words.

Austin fragt nach der Sprachhandlung, nach dem, was man
tut, wenn man spricht. Der Begriff der Sprachhandlung leuchtet
etwa beim Versprechen oder dem Glückwunsch ein, denn
hier sind Handlungen gemeint, die des sprachlichen Vollzuges
bedürfen. Sie sind also Performative. Diese Auffassung hat
Austin um die Sprechakttheorie erweitert. Ihr zufolge verfolgt
jedes Sprechen sowohl Absicht als auch Ziel und ist darin
Handlung. Damit gehen Performative in die Sprachhandlungen
ein.

Die Performative unterliegen nicht der Verifizierbarkeit, sie
können aber korrekt/nicht korrekt oder wirksam/unwirksam
sein. D.h. die performativen Sprachhandlungen können glücken
oder auch nicht. Das bedeutet: „Eine plausible und tragfähige
Wahrheitsbestimmung ist nur dann zu erreichen, wenn sie an
der Sprachhandlung unter Berücksichtigung ihrer konstitutiven
Momente ausgerichtet wird" (33). Die performativen Sprachformen
hängen damit von keiner letzten unabhängigen Realität
ab, sondern schaffen diese Realität erst im Vollzug ihres Sprechens
, in dem sich die Wirklichkeit konstituiert. Damit ist die
Wirksamkeit der Performative von der Mitgliedschaft in einer
Sprachgemeinschaft ebenso abhängig wie von der Auszeichnung
einzelner Personen, bestimmte Handlungen vollziehen zu
können; ferner müssen Situation und Kontext beachtet werden.

Welche Bedeutung hat die Sprechakttheorie nun für die Interpretation
religiöser Sprache? Dieser entscheidenden Frage geht
die Vfn. im zweiten Teil der Arbeit (45-135) in vielen Einzelaspekten
nach. Sie zeigt auf, daß sich performative Sprechakte
gleichermaßen finden in atl. Verheißungen, ntl. Heilungen, in
der Glaubenssprache des Bekennens, Dankens. Versprechens,
Betens, aber auch in kirchlichen Amtshandlungen von Taufe,
Abendmahl, Konfirmation, Trauung, Beerdigung, Ordination
und Amtseinführung. Wesentlich ist hier die Ich-Beteiligung
des Subjekts, die die magische Wirksamkeit von Performativen
verhindert. Vielmehr sind religiöse Performative in den Refe-
renzrahmen von Glaubensaussagen eingebunden, womit ihre
Wirksamkeit „auf den persönlichen Gottesglauben und das
Gottvertrauen" (112) des jeweiligen Individuums angewiesen
sind wie auf den Kontext der jeweiligen religiösen Gemeinschaft
.

Im dritten Teil der Arbeit verweist S. auf neuere Sprechakttheorien
, die sich mit Sprachhandlungen religiöser Sprache auseinandersetzen
, wie P. F. Strawson, J. R. Searle, M. Schwab
und I. U. Dalferth (137-162).

Der Vfn. gelingt es mit dieser Arbeit, das parallele Verständnis
des gesprochenen Wortes als handelndes und wirkendes
Wort in reformatorischer Theologie und Spreehakttheoric herauszuarbeiten
: „Luthers Erkenntnis, daß die im Evangelium
vorliegenden Verheißungssätze keine bloßen Deklarationen
sind, sondern diese promissiones als Handlungen zu verstehen
sind, durch die Gott selbst wirkt, weist zweifellos enge Be-
rühungspunkte zur Sprechakttheorie auf, insofern auch, als im
christlichen Evangelium performative Sprechakte vorliegen"
(135).

Gerade in einer Zeit wie unserer, in der die Selbstverständlichkeit
religiöser Rede schwindet, zeigt sich die Bedeutung der
Sprechakttheorie, da sie für den Religions- und Konfirmandenunterricht
, aber auch für die Predigt, die Bedingungen erkennen
lehrt, unter denen Worte als Sprachhandlungen wirksam werden
können. Es ist das Verdienst dieser Arbeit, damit die
Grundlagen für ein zeitgemäßes Verstehen christlicher Aussagen
gelegt zu haben, wie auch die Voraussetzungen für eine
entsprechend nachvollziehbare Kommunikation,

Hamburg Wolfgang Brich Müller